Jahresbericht 2022

TNr. 51 Risikomanagement bei der Einkommensteuer

Steuerformular; Bild: Stockfotos-MG - stock.adobe.com

Das bei der Prüfung von Einkommensteuererklärungen eingesetzte automationsgestützte Risikomanagementsystem weist auch mehr als zehn Jahre seit dessen Einführung Mängel auf. Der ORH empfiehlt, zeitnah Maßnahmen zur Verbesserung der dabei eingesetzten Datengrundlage zu ergreifen und den IT-Projekten zur Überprüfung des Risikomanagementsystems höhere Priorität einzuräumen.

Die Weiterführung des Risikoklassenmodells sollte wegen dessen gravierender Mängel überprüft werden.

Der ORH hat 2020/2021 in einer Querschnittsuntersuchung das Risikomanagement bei der Einkommensteuer (ESt) geprüft. Untersucht wurden Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit, insbesondere Systematik, Evaluierung und Zielerreichung des Risikomanagementsystems (RMS) sowie der Umgang der Bearbeiter mit dem Risikoklassenmodell (RKM).


51.1 Ausgangslage

Die ESt-Erklärungen im Arbeitnehmerbereich1 (AN-Bereich) durchlaufen seit 2010 ein programmgesteuertes RMS. In den Allgemeinen Veranlagungsstellen2 (AVSt) ist das RMS seit November 2012 im Einsatz. Mithilfe maschineller Risikofilter werden Hinweise generiert. Die Bearbeiter sollen die Steuererklärungen dann auf Grundlage dieser Hinweise nur punktuell prüfen.

Mit dem RMS als mittlerweile zentralem Instrument der Steuerverwaltung zur automationsgestützten Bearbeitung der Steuererklärungen arbeiten direkt ca. 4.700 Bearbeiter.


51.1.1 Gesetzliche Regelung und deren Zielsetzung

Die Abgabenordnung3 ermöglicht den Finanzbehörden, zur Beurteilung der Notwendigkeit weiterer Ermittlungen und Prüfungen für eine gleichmäßige und gesetzmäßige Festsetzung von Steuern automationsgestützte Systeme einzusetzen (Risikomanagementsysteme). Dabei soll auch der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Verwaltung berücksichtigt werden. Voraussetzung für den Betrieb solcher RMS ist u.a. die regelmäßige Überprüfung auf ihre Zielerfüllung und die Gewährleistung, dass durch Zufallsauswahl eine hinreichende Anzahl von Fällen zur umfassenden Prüfung ausgewählt wird. Für die Evaluierung des RMS ist die im Rahmen von KONSENS4 eingerichtete Arbeitsgruppe „Evaluation und Risikoregeln“ (Ag EVA) zuständig. Ziel des RMS ist die Verstärkung der ausschließlich automationsgestützten, vollmaschinellen Bearbeitung von geeigneten Steuererklärungen.5 Personelle Ressourcen sollen so auf die wirklich prüfungsbedürftigen Fälle konzentriert werden.


51.1.2 Entwicklungsstufen des RMS

Die Software für das RMS im Bereich der ESt wird im Rahmen von KONSENS entwickelt. Die Verantwortung hierfür tragen die beiden auftragnehmenden Länder Nordrhein-Westfalen und Bayern gemeinsam. Die Entwicklung des RMS-ESt erfolgte bisher in zwei Stufen.

Das ursprüngliche Konzept (Konzept 1.0) aus 2007 sieht ein RMS für ESt-Fälle mit ausschließlich Überschusseinkünften6 vor. Es beschreibt ein regelbasiertes Aussteuerungsverfahren: Mithilfe eines Risikofilters wird der Risikogehalt der Steuerfälle (insbesondere das Steuerausfallrisiko) ermittelt, etwa durch Abgleich der Erklärungsdaten mit in der Steuerverwaltung vorhandenen Daten. Beim Anschlagen bestimmter Regeln oder Schwellenwerte werden die Fälle zu den Bearbeitern elektronisch mit entsprechenden Hinweisen zur Prüfung ausgesteuert. Stellt das RMS keine überprüfenswerten Angaben fest, kann der ESt-Bescheid unter bestimmten Voraussetzungen vollmaschinell erlassen werden, ohne dass ein Amtsträger von dem Inhalt der Steuererklärung Kenntnis erlangt. Zusätzlich wird ein bestimmter Anteil an Fällen nach dem Zufallsprinzip zur vollständigen Überprüfung ausgesteuert (Zufallsauswahl).

Das fortentwickelte Konzept von 2009 (Konzept 2.0) erfasst zusätzlich ESt-Fälle mit Gewinneinkünften7 und weitere Steuerarten (Umsatzsteuer und Gewerbesteuer), um auch einen Teil dieser Fälle vollmaschinell zu veranlagen. Die für eine maschinelle Risikoanalyse erforderlichen Daten der Steuerpflichtigen lagen jedoch teilweise nicht in elektronisch auswertbarer Form vor; insbesondere fehlten Daten zur Bilanz sowie zur Gewinn- und Verlustrechnung. Daher wurde mit dem RKM ein System für den gesamten Veranlagungsbereich entwickelt, bei dem der Risikofilter mit einer Risikoprognose des Bearbeiters verknüpft wird. Diese zusätzliche personelle Zuordnung der Steuerfälle zu verschiedenen Risikoklassen (RK) führt zur Anwendung von unterschiedlichen Filtern bei der Aussteuerung der Fälle mit Hinweisen.

Im Wesentlichen wird zwischen drei RK unterschieden, die zur Anwendung unterschiedlicher Filter führen: Bei geringem Risiko kommt ein Mindestfilter zur Anwendung, bei mittlerem und hohem Risiko durchlaufen die Fälle den Regelfilter. Mindest- und Regelfilter unterscheiden sich in den angewandten Filterkriterien insbesondere bei Wertgrenzen und Toleranzen.

Tabelle 74


Zusätzlich können die Bearbeiter prüfungsbedürftige Sachverhalte als sog. Risikobereiche elektronisch speichern; damit wird die vollmaschinelle Festsetzung verhindert und der Steuerfall zur personellen Bearbeitung ausgesteuert.


51.2 Feststellungen


51.2.1 Einsatz des RMS in Bayern

Die Anzahl der in Bayern im Rahmen des RMS zu bearbeitenden ESt-Erklärungen stieg seit Jahren stetig auf knapp 5,3 Mio. im Jahr 2020. Bei der Veranlagung waren über 8 Mio. RMS-Hinweise zu bearbeiten. Die Anzahl sowie die Quoten der vom RMS ohne Hinweise ausgesteuerten und damit in der Regel automatisch veranlagten Steuerfälle 2017 bis 2020 sind aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich:8

Tabelle 75


51.2.2 Überprüfung des RMS


51.2.2.1 Bedeutung der Zufallsauswahl

Grundlage für die gesetzlich vorgegebene Evaluierung des RMS sind die Fälle der Zufallsauswahl. Denn nur diese sind nach den Dienstanweisungen umfassend und unabhängig vom Risikofilter intensiv zu prüfen. Erst dies ermöglicht, den Umfang und die Wirksamkeit der Hinweise zu evaluieren. Laut diesen Dienstanweisungen entscheidet der Bearbeiter dabei nach eigenem Ermessen, unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalls und nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit über die Art und den Umfang der Ermittlungen.


51.2.2.2 Bearbeitungsqualität der Fälle der Zufallsauswahl

Das Landesamt für Steuern (LfSt) prüft regelmäßig im Rahmen seiner Geschäftsprüfungen die Bearbeitungsqualität von Fällen der Zufallsauswahl. Der ORH wertete die entsprechenden Feststellungen aus. Diese betreffen 349 Fälle der Zufallsauswahl aus 22 Prüfungen der Jahre 2018 bis 2020. Die Geschäftsprüfung beanstandete die Bearbeitungsqualität bei 34% dieser Fälle.

Im Rahmen der ORH-Prüfung von Unterhaltsaufwendungen gem. §33a EStG9 wurden auch 20 Fälle untersucht, die einen Hinweis zur Zufallsauswahl enthielten; von diesen beanstandete der ORH 16 (80%).

Der Jahresbericht der KONSENS Ag EVA 2019 schildert zur Bearbeitungsqualität die Vorgehensweise in Nordrhein-Westfalen. Dort seien in einigen Finanzämtern sog. Qualitätssicherungsstellen mit der Prüfung der Fälle der Zufallsauswahl beauftragt (Vier-Augen-Prinzip). Die Fälle würden entsprechend akribisch geprüft und lieferten somit wertvolle Hinweise auf erforderliche und sinnvolle Anpassungen des Risikofilters.


51.2.2.3 Evaluierung des RMS

Zur Evaluierung und weiteren Entwicklung des Verfahrens RMS ist - so auch die Ag EVA in ihrem Jahresbericht 2019 - die regelmäßige Erhebung und Analyse umfangreicher, valider Daten erforderlich. Verbesserungen hierbei sind abhängig von der technischen Umsetzung verschiedener IT-Projekte. Derzeit wird nicht erhoben, inwieweit RMS-Hinweise steuerliche Mehr-/Minderergebnisse oder welchen Änderungsumfang sie zur Folge haben. Die Auswertungen können derzeit nur auf der Grundlage für andere Zwecke erhobener Daten erstellt werden. Auf die Auswirkungen der Abhängigkeit von diesen Daten weist die Ag EVA seit 2011 jährlich hin. Eine IT-Anwendung, die eine nahezu vollständige maschinelle Erfassung von Mehr-/Minderergebnissen ermöglicht, ist bereits seit mindestens 2015 geplant. Für die Weiterentwicklung der Risikoregeln werden umfassende (bundeseinheitliche) Auswertungsmöglichkeiten benötigt. Umfangreiche und strukturierte Auswertungen sind Voraussetzung für eine effiziente Evaluierung der Risikoregeln.


51.2.3 Risikoklassenmodell


51.2.3.1 Einführung und Ziele des Risikoklassenmodells

Mit Einführung des Konzepts 2.0 sollten die Erkenntnisse der Bearbeiter zum regeltreuen Verhalten des Steuerpflichtigen (Compliance) in das maschinelle Verfahren integriert werden. Hierfür wurde der maschinelle Risikofilter mit einer Prognose des Bearbeiters über den künftigen Risikogehalt des Steuerfalls kombiniert. Durch die Einführung des RKM soll z.B. die Erfüllung der Mitwirkungs- und Erklärungspflichten in die Beurteilung des Risikogehalts von Steuerfällen einbezogen werden. Das Wissen der Bearbeiter aus der zeitraumübergreifenden Bewertung des Gesamtfalls sollte durch die Risikoprognose ein weiterer Baustein zur Identifikation von Steuerausfallrisiken sein. Das RKM ist seit 2016 flächendeckend im Einsatz.


51.2.3.2 Evaluierung des Risikoklassenmodells

Neben der Evaluierung des Regelfilters/Mindestfilters muss nach dem Konzept 2.0 auch eine regelmäßige Überprüfung des RKM erfolgen. Demnach ist zu untersuchen, ob die Prognoseentscheidungen der Bearbeiter zutreffend waren. Die Planungen zur Evaluierung des RKM sind bis dato nicht umgesetzt. Nach Auskunft des LfSt müsste es für eine Evaluierung möglich sein, den personellen Entscheidungsprozess des Bearbeiters objektiv und maschinell nachzuvollziehen. Dafür müsste bei jedem Fall eindeutig klar sein, welcher RK der Fall zugeordnet werden kann. Wenn diese Zuordnung künftig jedoch maschinell erfolgen könnte, bräuchte es keine personelle Entscheidung des Bearbeiters mehr.


51.2.3.3 Vergleich Regel-/Mindestfilter

73% der Risikoregeln sind bei Regel- und Mindestfilter identisch. Die Auswirkungen der Anwendung des Mindestfilters im Vergleich zum Regelfilter sind nur mit einem Vergleichslauf feststellbar. Nach Auskunft des LfSt müssten für einen solchen Simulationslauf sehr umfangreiche technische Vorbereitungen getroffen werden. Derzeit könne nicht abgeschätzt werden, ob und ggf. wann die sehr komplexe und aufwendige Auswertung umgesetzt werden könne.


51.2.3.4 Kriterien für die Zuordnung zu einer Risikoklasse

In der Dienstanweisung sind „mögliche Kriterien für die Risikoklassenvergabe“ in Form einer tabellarischen Auflistung mit zumeist abstrakten Fallgruppierungen aufgeführt. Die dem Fall zugeordnete RK soll die Prognose des künftigen, zu erwartenden steuerlichen Risikos widerspiegeln. Eine genaue Definition der dafür maßgebenden Kriterien enthält das Konzept 2.0 nicht.


51.2.3.5 Quoten der Risikoklassenvergabe nach Arbeitseinheiten

Der ORH verglich bei 507 AN-Stellen für den VZ 2019, wie weitgehend sie Fälle der RK 3 zugeordnet hatten. Die Bandbreite der Quoten von Fällen, die in RK 3 eingestuft worden waren, reichte von 0 bis 62,5%. Die fünf höchsten Quoten (54,3 bis 62,5%) stammten aus demselben Finanzamt. Bei 1.020 AVSt lag die Bandbreite zwischen 0,1 und 68,6%. Bei 92 dieser AVSt lag die Quote unter 10%, bei 20 über 50%.


51.2.3.6 Zuordnung der Risikoklasse nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens

Sowohl nach dem Konzept 2.0 als auch der Dienstanweisung stellt die Einleitung eines Strafverfahrens explizit ein mögliches Kriterium für die Vergabe der RK 1 dar. Der ORH überprüfte die RK bei 88 Steuerfällen von natürlichen Personen mit einer im Jahr 2019 abgeschlossenen Steuerfahndungsprüfung. In 3 von 88 Fällen war die RK 1 gespeichert. In 4 weiteren Fällen war eine Eintragung im Risikobereich ersichtlich. Demnach war in 8% der Fälle eine Reaktion des Bearbeiters auf das durchgeführte Strafverfahren erkennbar. In 5 Fällen war die RK 3 gespeichert.


51.2.3.7 Risikoklasseneinteilung bei Fällen mit hohen Abweichungen im AN-Bereich

Nach der Dienstanweisung sollen Fälle mit hohen steuerlichen Mehrergebnissen in den Vorjahren der RK 1 zugeordnet werden. Eine Definition für den Begriff hohes Mehrergebnis existiert nicht. Der ORH wertete Steuerfälle aus, bei denen die Bearbeiter Änderungen der Besteuerungsgrundlagen mit einer steuerlichen Auswirkung von jeweils mehr als 2.000 Euro in den VZ 2017, 2018 und 2019 vorgenommen hatten.10 Von diesen 890 Steuerfällen waren 72 Fälle (8%) der RK 1 zugeordnet, 762 Fälle (86%) der RK 2 und 56 Fälle (6%) der RK 3.


51.2.3.8 Risikoklasseneinteilung bei Fällen ohne Abweichungen im AN-Bereich

Nach der Dienstanweisung soll bei Fällen, bei denen es keine bzw. nur geringe Änderungen in den Vorjahren gab, die RK 3 vergeben werden. Der ORH wertete die Risikoklasseneinteilung von Fällen aus, bei denen in den VZ 2017, 2018 und 2019 von den Erklärungsangaben nicht abgewichen worden war. Von 8.204 Fällen waren 531 Fälle (6%) der RK 3 zugeordnet, 7.648 Fälle (93%) der RK 2 und 25 Fälle (0,3%) der RK 1.


51.3 Würdigung und Empfehlungen


51.3.1 Einsatz des RMS in Bayern

Das RMS ist mittlerweile das zentrale Instrument zur automationsgestützten Bewältigung der ständig steigenden Anzahl von ESt-Erklärungen. Nur mit einem gut funktionierenden RMS kann das Spannungsfeld zwischen der verfassungsrechtlich geforderten Gleichmäßigkeit der Besteuerung einerseits und dem Einsatz der Personalressourcen für wirklich prüfungsbedürftige Fälle andererseits gelöst werden. Ohne Nachjustierung kann es zu erheblichen Steuerausfällen kommen.


51.3.2 Überprüfung des RMS

Die Datenbasis zur regelmäßigen Überprüfung der Risikoregeln, die die gesetzliche11 Voraussetzung für den Betrieb ist, ist auch elf Jahre nach Einführung des RMS mit erheblichen Mängeln behaftet. Der Bearbeitungsqualität von Fällen der Zufallsauswahl sollte wesentlich größere Aufmerksamkeit eingeräumt werden. Die Bearbeitung von Fällen, die der Überprüfung und Verbesserung des Systems dienen sollen, kann nicht in das nach wie vor sehr unterschiedlich ausgeübte Ermessen der Bearbeiter gestellt bleiben. Die Versuche, mit Sensibilisierung der Bearbeiter eine Verbesserung zu erreichen, sind bislang gescheitert. Weitere Maßnahmen sind erforderlich.

Die von der KONSENS Ag EVA seit 10 Jahren geforderten Auswertungsmöglichkeiten sind noch immer nur unzureichend vorhanden. Die IT-Unterstützung zur Evaluierung des RMS wird dessen Bedeutung bei Weitem nicht gerecht. Die Evaluierung des RMS erfolgt derzeit lediglich punktuell und steht nicht im Einklang mit den gesetzlichen Voraussetzungen. Die von der Ag EVA seit Jahren zu Recht geforderten IT-Anwendungen sollten im Vorhaben KONSENS entsprechend hoch priorisiert werden.

Der ORH empfiehlt, zur Verbesserung der Bearbeitungsqualität der Fälle der Zufallsauswahl, ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen, die Bildung von Qualitätssicherungsteams zu prüfen.


51.3.3 Risikoklassenmodell

Das RKM leidet in der derzeitigen Ausgestaltung an gravierenden Mängeln: Mit dem Konzept 1.0 wurde das System der punktuellen Prüfung von als risikobehaftet bewerteten Sachverhalten eingeführt. Das Konzept 2.0 stellt mit seinem RKM - insoweit systemwidrig - auf den Gesamtfall ab. Prognoseentscheidungen der Bearbeiter erfordern zeitraumübergreifende und vollständige Ermittlungen aller steuerlichen Daten des betroffenen Steuerfalls. Zumindest bei Steuerfällen mit Gewinneinkünften verursacht dies einen erheblichen Zeitaufwand. Das erforderliche Erfahrungswissen zum konkreten Gesamtfall dürfte aufgrund häufigem Personalwechsels, Neuzuschnitts der Veranlagungsbezirke sowie der Vorgabe des RMS zur punktuellen Prüfung nur in wenigen Einzelfällen vorhanden sein. Das Ergebnis bleibt aber auch bei intensiver Prüfung weiterhin eine mehr oder weniger ungewisse Prognose. Ob dem Zeitaufwand tatsächlich ein nennenswerter Nutzen gegenübersteht, ist mangels Evaluierungsmöglichkeiten nicht feststellbar.

Dass ein bestimmter Anteil von Steuerpflichtigen systematisch einer weniger strengen maschinellen Prüfung unterliegt, sieht der ORH im Lichte des Gleichheitsgrundsatzes als problematisch. Mit dem RKM werden auf der Grundlage einer uneinheitlich gehandhabten subjektiven Bearbeiterprognose gleiche Sachverhalte vielfach ungleich behandelt. Anders als bei der durch Bearbeiter erfolgenden Prüfung, die auch zu ungleichmäßiger Rechtsanwendung führen kann, ist die Unterschiedlichkeit im RKM aber strukturell angelegt. Der Bundesrechnungshof (BRH) hatte bereits 2009 Zweifel an der Rechtmäßigkeit unterschiedlicher, länderspezifischer Wertgrenzen innerhalb von Mindest- und Regelfilter angemeldet.12

Eine Evaluierung des RKM findet nicht statt. Die notwendigen technischen Voraussetzungen für eine systematische Evaluierung sind zwar geplant, aber weiterhin nicht vorhanden.

Die Auswertung der Zuordnung von Fällen zu RK 1 bis RK 3 zeigt, dass das RKM bisher entweder nur von einem Teil der Bearbeiter angenommen worden ist oder die zur Verfügung gestellten Daten und Risikokriterien zu einer fundierten Prognose nicht ausreichen. Insbesondere die Quote bei der Vergabe der RK 1 bzw. Eintrag im Risikobereich bei Steuerfahndungsfällen von 8% hält der ORH für deutlich zu niedrig; sie belegt die nicht systemgerechte Anwendung des RKM. Wegen des Verzichts der Steuerverwaltung auf wirksame Evaluierungsinstrumente ist eine Feststellung der Ursachen nicht möglich.

Nach Auffassung des ORH

  • ist wegen der unterschiedlichen Wertgrenzen von Regel- und Mindestfilter die Gleichmäßigkeit der Besteuerung zumindest gefährdet (Art.3 Abs. 1 GG, §85 AO),
  • wird aufgrund der fehlenden Evaluierung der Zielerreichung eine gesetzliche Voraussetzung nicht eingehalten (§88 Abs. 5 Nr. 4 AO),
  • steht dem mit der Risikoprognose verbundenen Aufwand kein messbarer Nutzen gegenüber und
  • ist eine fundierte Prognose mit den zur Verfügung gestellten Daten nicht möglich.

Vor einer Weiterentwicklung der IT-Anwendungen sollte zeitnah die Wirtschaftlichkeit des RKM geklärt werden. Auf den Einsatz der RK sollte jedenfalls bis dahin wegen deren großer Schwächen verzichtet werden. Der Wissenstransfer aus den Vorjahren kann gezielter und ohne Prognoseentscheidung über die Risikobereiche erfolgen.


51.4 Stellungnahme der Verwaltung

Das Finanzministerium teilt mit, die Weiterentwicklung bundeseinheitlicher Auswertungsmöglichkeiten im Rahmen von KONSENS hänge von der gemeinsam vorgenommenen Priorisierung der obersten Finanzbehörden der Länder und des Bundes ab. Im Übrigen stünden für die Evaluierung der Risikohinweise zur ESt und zur Anlage EÜR (Einnahmenüberschussrechnung) seit Jahren Standardauswertungen zur Verfügung. Die bayerische Steuerverwaltung werde sich auch weiterhin für eine hohe Priorisierung der erforderlichen IT-Verfahren einsetzen.

Das Finanzministerium teilt weiter mit, dass das RMS bereits fortlaufend durch die Länder, insbesondere im Bereich der ESt und auch der Anlage EÜR, evaluiert und auch optimiert werde. Hierfür würden bereits vielfältige, sich ergänzende Maßnahmen ergriffen.

Es kündigt an, den Vorschlag des ORH aufzugreifen und die Bildung von Qualitätssicherungsteams zu prüfen.

Die Feststellungen des ORH zur Vergabe der Risikoklassen bei Steuerfahndungsfällen würden zum Anlass genommen, die einschlägigen Verfügungen zu prüfen und ggf. zu konkretisieren.

Der Forderung des BRH, möglichst einheitliche Betragsgrenzen innerhalb von Regel- und Mindestfilter umzusetzen, sei Rechnung getragen worden. Aus Sicht der Steuerverwaltung sei die Gleichmäßigkeit der Besteuerung durch den Einsatz von Regel- und Mindestfilter im RMS nicht gefährdet.

Die Vorschläge des ORH zum Risikoklassenmodell würden in der Art aufgegriffen, dass die beiden Auftrag nehmenden Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen über eine flächendeckende Analyse des Systems der Risikoklassen, ihrer Vergabe und der daraus resultierenden Konsequenzen beraten werden.


51.5 Schlussbemerkung

Das bei der Prüfung von ESt-Erklärungen eingesetzte RMS weist auch mehr als zehn Jahre seit dessen Einführung Mängel auf. Angesichts der zentralen Bedeutung des RMS hält der ORH die angekündigten Maßnahmen zur Verbesserung der Datengrundlage, die zur gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfung von RMS erforderlich ist, für längst überfällig. Diese sollten nun zeitnah umgesetzt werden. Den IT-Projekten zur Evaluierung des RMS sollte im Vorhaben KONSENS eine entsprechend hohe Priorität eingeräumt werden. Der ORH empfiehlt, dass sich Bayern dafür im Rahmen von KONSENS nachdrücklich einsetzt.
Die Weiterführung des RKM sollte wegen dessen gravierender Mängel generell überprüft werden; mindestens jedoch bis zur Klärung der Wirtschaftlichkeit des RKM sollte auf den Einsatz der Risikoklassen verzichtet werden.

 


[1] Der Arbeitnehmerbereich ist im Wesentlichen zuständig für Steuererklärungen mit ausschließlich Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit und/oder Kapitalvermögen und/oder Renten.
[2] Die Allgemeine Veranlagungsstelle ist zuständig für Steuerfälle mit Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbstständiger Arbeit (Gewinneinkünfte) sowie Vermietung und Verpachtung, ggf. auch zusammen mit Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit und/oder Kapitalvermögen und/oder Renten.
[3] §88 Abs. 5 AO, eingefügt durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.07.2016 (BGBl. I S. 1679).
[4] Vgl. Fn. 2, TNr. 44.
[5] Gesetzesbegründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens; BT-Drs. 18/7457 vom 03.02.2016, S. 46ff.
[6] Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung und sonstige Einkünfte.
[7] Vgl. Fn. 2.
[8] Bei AN-Fällen umfasst die Auswertung vier Veranlagungszeiträume (VZ), bei den AVSt-Fällen drei.
[9] Siehe ORH-Bericht 2021 TNr. 47.
[10] Zum Vergleich: Das durchschnittliche Mehrergebnis aus Fällen mit Hinweis im AN-Bereich betrug im VZ 2019  137 Euro.
[11] §88 Abs. 5 Satz 3 AO.
[12] BT-Drs. 17/77; Bemerkungen des BRH 2009 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, Rz. 40.