Jahresbericht 2005

TNr. 19: IuK-Einsatz in der Justiz

Gerichtsverhandlung

Mit dem Projekt bajTECH2000 sollen rd. 12.000 Arbeitsplätze mit neuen IuK-Verfahren und PCs ausgestattet werden. Dafür waren bis 2010 Haushaltsmittel von rd. 350 Mio € vorgesehen. Die Wirtschaftlichkeit dieses Vorhabens ist bislang nicht nachgewiesen.

Der ORH ist der Auffassung, dass das mit den bisherigen und künftigen DV-Verfahren verbundene Einsparpotential um ein Mehrfaches höher liegt als vom Staatsministerium angegeben. Der ORH schätzt es auf mehr als 750 Stellen.

19.1 IuK-Ausstattung und IuK-Verfahren der bayerischen Justiz

 

Ende 2003 waren in der ordentlichen Gerichtsbarkeit und in den Staatsanwaltschaften in Bayern mit etwa 14.000 Bediensteten rd. 12.000 Bildschirmarbeitsplätze eingerichtet. Die Beschäftigten werden in ihren Aufgabenbereichen durch mehr als 40 justizspezifische Fachanwendungen unterstützt. Schwerpunktmäßig erfolgt dies für die Mitarbeiter der Geschäftsstellen und Schreibkanzleien bzw. der Serviceeinheiten bei ihren Routine- und Massentätigkeiten (z.B. Erstellung des Schreibwerks, Vorgangsverwaltung, Fristenverwaltung, Statistik, Protokollführung). Die Arbeitsplätze der Rechtspfleger sind in einigen Aufgabenbereichen vollständig (z.B. Grundbuchamt, Handelsregister) und in den anderen Bereichen ganz überwiegend (z.B. Vormundschaftsgerichte) mit IuK ausgestattet. Einige IuK-Anwendungen unterstützen auch die Richter und Staatsanwälte (z.B. Berechnungsprogramm für Familienrichter).

Die in den einzelnen Aufgabenbereichen eingesetzten IuK-Verfahren zeigt die folgende Übersicht:

Übersicht_1

Neben diesen Fachverfahren kommen auf den meisten Bildschirmarbeitsplätzen noch das Textsystem HIT und auf allen PCs das Office-Paket von Microsoft zum Einsatz. Die meisten Verfahren laufen noch auf UNIX-Mehrplatzanlagen ohne eigene Verarbeitungsfunktionalität (sog. Terminals). Bei den Verfahren SOLUM-STAR (Grundbuchsachen), RegisSTAR (Registersachen) und RESODAT (Bewährungshelfer) wird die Client-/Server-Technologie (rd. 2 000 Bildschirmarbeitsplätze) eingesetzt.

19.2 IuK-Projekt bajTECH2000

 

Das Staatsministerium entschied im Jahr 1999, die bisher eingesetzten terminalbasierten Mehrplatzsysteme und die darauf betriebenen DV-Verfahren möglichst zügig durch PC-Client/Server-Systeme mit multifunktionalen, gerichtsübergreifend vernetzten PC-Arbeitsplätzen und neuen Fachanwendungen (bezeichnet als forumSTAR-Verfahren) zu ersetzen. Das Vorhaben soll mit dem Projekt bajTECH2000 umgesetzt werden, mit dem insgesamt rd. 12.300 PC-Arbeitsplätze bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften eingerichtet werden sollen. Der ORH hat das Projekt geprüft und dabei Folgendes festgestellt:

Teilprojekt PROJUS

Die Umstellung der Verfahren von den UNIX-Mehrplatzanlagen auf die Client-/Server-Technologie sollte zunächst mit dem Projekt PROJUS herbeigeführt werden. PROJUS sah die Automationsunterstützung für Strafsachen vor und sollte das Leitverfahren für weitere IuK-Verfahren bilden. Entsprechend der Ausschreibung sollten zunächst 400 Arbeitsplätze bei sieben Gerichten mit dem Verfahren ausgestattet werden. PROJUS ist nach vier Jahren Entwicklungszeit im Jahr 2000 eingestellt worden und verursachte Kosten von rd. 3,1 Mio €. Die Projektziele (insbesondere die erwarteten Einsparungen in Höhe von mehreren Millionen Euro) wurden nicht erreicht.

Die Ursachen dafür sieht der ORH in einer Reihe von Mängeln bei der Projektdurchführung:

  • Eine Voruntersuchung mit näherer Alternativenprüfung wurde nicht durchgeführt.
  • Die Anwendungskomponente „Textverarbeitung“ wurde viel zu gering gewichtet.
  • Die Ansprüche gegenüber dem externen Entwickler wurden nicht ausreichend geltend gemacht.

 

Das Staatsministerium ist der Auffassung, dass bei PROJUS keine Mängel in der Projektdurchführung vorgelegen hätten. Die Laufzeitprobleme der Anwendungskomponente „Textverarbeitung“ seien nicht vorhersehbar gewesen. Mit der Integration in das neue Großprojekt bajTECH2000, bei der die für PROJUS gezahlte Vergütung angerechnet worden sei, sei auch die günstigste und wirtschaftlichste Lösung herbeigeführt worden.

Diese Meinung ist durch die Projektunterlagen nicht belegt.

Projektdurchführung

Die Alternativen zu bajTECH2000 wurden sowohl generell als auch bei Einzelmaßnahmen nicht in dem notwendigen Umfang untersucht. Als Alternative zu dem groß angelegten Projekt bajTECH2000 wäre vor allem in Betracht gekommen, den ohnehin schon hohen Ausstattungsgrad (10.500 IuK-Arbeitsplätze im Jahr 1998) kontinuierlich und schrittweise auszubauen bzw. die Geräte zu modernisieren und schwerpunktmäßig Fachverfahren neu und/oder weiter zu entwickeln. Der Haushaltsmittelbedarf wäre bei diesem kontinuierlichen Ausbau der IT-Technik mit Client-/Server-Systemen im Betrachtungszeitraum von 2000 bis 2010 schätzungsweise bei etwa 180 Mio € und somit gegenüber dem Bedarf für bajTECH2000 von rd. 350 Mio € wesentlich niedriger gelegen. Außerdem hat die umfassende Heranziehung externer Dienstleister zu erheblichen Mehrkosten gegenüber der Erledigung durch eigene Kräfte geführt. Trotzdem wird das Projekt nach den derzeitigen Kenntnissen erst im Jahr 2007 und somit drei Jahre später als geplant abgeschlossen werden können.

Das Staatsministerium ist der Auffassung, dass Alternativen bei allen Teilprojekten von bajTECH2000 untersucht worden seien. Es hätte keine echte Alternative zu dem eingeschlagenen Weg gegeben, ohne ein nicht vertretbares Risiko von Totalausfällen der IT bei der Justiz in Kauf zu nehmen. Die Projektverzögerung könne bei der Größe des Projekts als normal eingestuft werden. Der Kostenbetrag von 350 Mio € würde nicht zuletzt wegen veränderter Rahmenbedingungen (z.B. Konsolidierung der staatlichen Rechenzentren) bei weitem nicht erreicht werden.

Demgegenüber stellt der ORH fest, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der einzelnen Alternativen nicht dokumentiert sind. Die Projektverzögerung hat bereits zu erheblichen Mehrkosten geführt. Die erforderliche Fortschreibung der Gesamtkosten des Projekts ist durch das Staatsministerium bisher nicht erfolgt.

Wirtschaftlichkeitsbetrachtung

Die erstellte Wirtschaftlichkeitsrechnung kommt zwar zu einem positiven Ergebnis. Sie weist aber erhebliche Mängel auf und ist deshalb für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit nicht geeignet. Dies liegt insbesondere daran, dass als Nutzen die Einsparungen der bereits vorhandenen IuK-Verfahren nochmals angesetzt wurden und dass die Wirtschaftlichkeit nicht getrennt für die einzelnen Verfahren ausgewiesen wird. In die Berechnungen können nur die Einsparungen Eingang finden, die auf die neuen Verfahren von bajTECH2000 zurückzuführen sind.

Das Staatsministerium hält es für methodisch falsch, einzelne Verfahren aus dem Gesamtpaket herauszunehmen und gesondert zu betrachten. Alle Einzelentscheidungen müssten im Kontext mit dem Gesamtprojekt gesehen werden. Die durchgeführte Wirtschaftlichkeitsrechnung wird als methodisch vertretbar und bezüglich der Ansätze zu Kosten und Nutzen als durchwegs richtig eingestuft.

Der ORH kann diese Auffassung nicht teilen. Würde man die positiven Auswirkungen früherer IuK-Verfahren auch bei späteren neueren IuK-Vorhaben als Nutzen ansetzen, ließe sich im Grunde genommen jede derartige Verfahrensumstellung wirtschaftlich positiv darstellen. Deshalb ist es nach Auffassung des ORH unabdingbar, dass das Staatsministerium nunmehr eine methodisch korrekte Wirtschaftlichkeitsrechnung durchführt und dabei sowohl die Wirtschaftlichkeit der einzelnen IuK-Verfahren wie auch des Gesamtprojekts durch entsprechende Zielvorgaben und Erfolgskontrollen sicherstellt.

19.3 Personaleinsparungen durch IuK-Einsatz

 

Vom Staatsministerium wird nicht bestritten, dass mit der Einführung der DV-Verfahren Personaleinsparungen verbunden sein müssen, die den hohen Aufwand rechtfertigen. Unterschiedliche Auffassungen bestehen jedoch über den Umfang der abzubauenden Stellen.

Das Staatsministerium geht von den für seinen Geschäftsbereich angewandten Personalbedarfsberechnungen aus, nach denen derzeit 180 Stellen abgebaut werden können. Es verweist dabei u.a. auf das neue, von einem externen Unternehmensberater im Auftrag der Justizverwaltungen aller Länder erarbeitete Personalbedarfsberechnungssystem „PEBB§Y“.

Der ORH hat die möglichen Einsparungen geschätzt. Grundlage dafür waren interne Vermerke des Staatsministeriums zur Wirtschaftlichkeit einzelner DV-Verfahren, zusätzliche örtliche Erhebungen bei ausgewählten Gerichten und Staatsanwaltschaften zum IT-Einsatz und Prüfungserfahrungen aus Personalbedarfsberechnungen in Grundbuch- und Zivilsachen (vgl. Zahlenübersicht).

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Das haushaltswirksame Einsparvolumen liegt danach bei bisherigem IuK-Einsatz im mittleren Dienst und Schreibdienst bei mindestens 500 Stellen. Nach vollständiger Realisierung von bajTECH2000 können zusätzlich mindestens weitere 230 Stellen eingespart werden.

Die unterschiedlichen Auffassungen zum Einsparpotential sind u.a. darauf zurückzuführen, dass der vom Staatsministerium ermittelte Personalbedarf z.T. wesentlich höher liegt als das in den verschiedenen Bereichen tatsächlich eingesetzte Personal.

Der ORH hält den vom Staatsministerium ermittelten Personalbedarf für zu hoch. Er hat dies für den Grundbuchbereich festgestellt (vgl. ORH-Bericht 1995, TNr. 21). Hier hat das Staatsministerium auf der Grundlage des festgestellten Zeitbedarfs nach Einsatz von SOLUM/SOLUM-STAR den Personalbedarf ermittelt und die Differenz zum Ist-Personal bei den einzelnen Grundbuchämtern dann auch weitgehend abgebaut. Das führte dazu, dass statt rd. 700 nur mehr rd. 300 Bedienstete eingesetzt werden. Nach den damaligen Personalbedarfsberechnungen wären aber rd. 1 000 Stellen notwendig gewesen.

Das Staatsministerium legt Wert auf die Feststellung, dass bei Einsparungen in der Größenordnung von 750 Stellen die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege nicht nur gefährdet, sondern beseitigt würde. Es betont, dass gerade im Funktionsbereich des mittleren Justizdienstes/Justizangestelltendienstes nach wie vor erhebliche Bearbeitungsengpässe bestünden, die auch durch Qualifikations- und Motivationsprobleme der Mitarbeiter, hohe Fallzahlen sowie der erheblichen Fluktuation dieses Personalkörpers verursacht würden. Es sieht daher keinen Raum für Personaleinsparungen in dem vom ORH geschätzten Umfang.

Fundierte Aussagen zum Personalbedarf in den einzelnen Bereichen der Justiz sind angesichts der teilweise veränderten Aufgabenstellungen (Justiz-Entlastungsgesetze, aber auch Aufgabenzuwachs) nach Auffassung des ORH letztlich nur möglich, wenn die zu erledigenden Arbeitsmengen und die Bearbeitungszeiten unter Berücksichtigung der veränderten Arbeitsbedingungen mit anerkannten Methoden erhoben werden. Dies ist z.B. im Rahmen einer Prüfung des ORH für den Bereich der Zivilgerichtsbarkeit bei den Amtsgerichten 1998 in enger Zusammenarbeit mit dem Staatsministerium geschehen.1 Solange solche belastbaren Personalbedarfsberechnungen nicht vorliegen, ist nach Auffassung des ORH bei durch IuK-Einsatz ausgelösten Rationalisierungsgewinnen grundsätzlich vom tatsächlich eingesetzten Personal auszugehen.

Der ORH hat in seine Ermittlungen noch nicht alle Bereiche einbezogen, bei denen ein IuK-Einsatz bereits erfolgt ist (z.B. Oberlandesgerichte, Generalstaatsanwaltschaften, Justizkasse) bzw. durch bajTECH2000 noch erfolgen wird. Auch in diesen Bereichen bewirkt der IuK-Einsatz eine Reduzierung des Arbeitsaufwands. Bei den Rechtspflegern sind bei einzelnen Geschäften durch den derzeitigen und künftigen IuK-Einsatz ebenfalls Arbeitsentlastungen möglich. Nach Auffassung des ORH gilt dies vor allem für die Strafvollstreckung (EDV-Geldstrafenvollstreckung), für die Nachlasssachen und für die Verwaltungssachen. Hier und auch für den Bereich der Staatsanwälte und Richter müssen die Auswirkungen des IuK-Einsatzes noch näher untersucht werden.

Das Staatsministerium legt Wert auf die Feststellung, dass nach seiner Rechtsauffassung die richterliche Unabhängigkeit bzw. die sachliche Unabhängigkeit des Rechtspflegers eine Anordnung der IuK-Nutzung seitens der Justizverwaltung verbiete. Das Staatsministeriums verweist insbesondere darauf, dass bei Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern mögliche Erleichterungen infolge IuK-Einsatz durch erhöhte eigene Schreib- und Eingabeleistungen, durch personalintensive Rechtsänderungen der letzten Zeit und durch neue, zusätzliche Tätigkeiten im Interesse der Rechtsuchenden (z.B. Opferschutz, Zeugenbetreuung) vollständig aufgezehrt würden.

Das Staatsministerium hat die Notwendigkeit von Nacherhebungen in denjenigen Bereichen anerkannt, in denen modernste EDV zum Einsatz kommt. Es hat sich bereit erklärt, den Personalbedarf insbesondere im Funktionsbereich des mittleren Justizdienstes/Justizangestelltendienstes schrittweise methodisch zu untersuchen und dabei die Abläufe einschließlich der Schnittstellen zu den Entscheidungsträgern (Richter, Staatsanwälte, Rechtspfleger) mit einzubeziehen. Es will den ORH beratend hinzu ziehen und sich an den Ergebnissen dieser Erhebungen messen lassen.

Der ORH begrüßt die Bereitschaft des Staatsministeriums, ein nachvollziehbares und fortschreibbares Kennzahlensystem für den Personaleinsatz schaffen zu wollen.


1) Beratung der Bayerischen Staatsregierung gemäß Art. 88 Abs. 2 BayHO "Meßzahlen in Zivilsachen der Amtsgerichte" vom 19.10.1998, vgl. auch ORH-Bericht 2001, TNr. 25