TNr. 26: Vollstreckungsstellen der Finanzämter

Bei der Bearbeitung gewichtiger Vollstreckungsfälle hat der ORH erhebliche Mängel festgestellt. Die Vollstreckung ist zeitnah und konsequent durchzuführen. Hierfür muss ausreichend Personal zur Verfügung gestellt werden.In Insolvenzverfahren entstehen aufgrund der derzeitigen unbefriedigenden Rechtslage hohe Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer und durch Anfechtungen.
26.1 Gegenstand der Prüfung
Der ORH untersuchte bei seiner Prüfung der Vollstreckungsstellen die personelle Besetzung, die Entwicklung der Steuerrückstände und die Bearbeitung der Rückstandsfälle.
Hierzu wurden Statistiken und Erhebungsdaten für ganz Bayern ausgewertet und bei zehn Finanzämtern örtliche Prüfungen vorgenommen.
26.2 Besetzung der Vollstreckungsstellen
Zum 1. März 2005 arbeiteten in den Vollstreckungsstellen der Finanzämter insgesamt 1 175 Arbeitskräfte. Das bedeutet gegenüber 1998 einen Personalabbau um 57 Bearbeiter und - verglichen mit dem Personalzuteilungssoll von 1 319 Arbeitskräften - eine Unterbesetzung von 11 %. Beim bedeutendsten Vollstreckungsfinanzamt, dem Zentralfinanzamt München, fällt sie mit 15 % deutlich höher aus. Dieses Finanzamt erhebt rd. ein Drittel des Steueraufkommens und bearbeitet rd. zwei Fünftel der gesamten Rückstände in Bayern.
Bei den anderen geprüften Finanzämtern reichte das Spektrum von einer knapp 1 %igen Überbesetzung bis zu einer 15 %igen Unterbesetzung.
26.3 Arbeitsanfall
Gegenüber 1998 verringerten sich die Rückstandsfälle bei der Kraftfahrzeugsteuer und die Vollstreckungsersuchen anderer Behörden um rd. 18 %, während die bearbeitungsintensiveren Fälle aus dem Veranlagungssteuerbereich 1 um rd. 16 % zunahmen.
26.4 Steuerrückstände
Zum 30. April 2005 befanden sich insgesamt 1,0 Mrd € Veranlagungssteuern in Beitreibung, weitere 4,5 Mrd € waren in den zurückliegenden Jahren niedergeschlagen 2 worden, wurden jedoch noch überwacht. Pro Vollstreckungsfall beträgt der beizutreibende Rückstand (ohne das Zentralfinanzamt München) rd. 9 500 €, der niedergeschlagene Betrag rd. 19 500 €. Beim Zentralfinanzamt München erhöhen sich diese Durchschnittsbeträge deutlich auf 13 000 bzw. 26 000 €.
26.5 Niederschlagungen
Die Höhe der Niederschlagungen allein lässt keine belastbaren Rückschlüsse auf die Bearbeitungsqualität zu, weil in bestimmten Fällen (z.B. Insolvenzen) von Anfang an keine Vollstreckungsmöglichkeiten bestehen.
Niederschlagungen führen in der Regel zu Steuerausfällen. Der ORH hat bei seiner Prüfung festgestellt, dass der Anteil der Umsatz- und Einkommensteuer an den beizutreibenden Rückständen bei jeweils rd. 45 % liegt. Bei den niedergeschlagenen Steuerbeträgen steigt der Anteil der Umsatzsteuer auf 58 % (2,6 Mrd €), während die Einkommensteuer auf 30 % zurückgeht. Die Vollstreckung der Umsatzsteuer ist überproportional erfolglos.
Dies beruht zumindest auch auf der besonderen Problematik, die die Umsatzsteuer in Insolvenzverfahren aufwirft. Hier kommen zu den üblichen Fehlbeträgen noch die Ausfälle durch Vorsteuerberichtigungen und die Fortführung der Unternehmen mit vorläufigen „schwachen“ Insolvenzverwaltern (s. TNr. 26.5.2) hinzu.
26.5.1 Vorsteuerberichtigung
Die Vorsteuerberichtigung betrifft im Insolvenzfall folgende Fallkonstellation:
Ein Unternehmer bezieht von seinem Lieferanten umsatzsteuerpflichtige Warenlieferungen oder sonstige Leistungen. Die in der Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer kann er - auch wenn er den Lieferanten noch nicht bezahlt hat - als Vorsteuer beim Finanzamt geltend machen. Der Lieferant muss den in der Rechnung ausgewiesenen Betrag als Umsatzsteuer an das Finanzamt abführen. Bezahlt der Unternehmer die Rechnung (wegen Insolvenzeröffnung) nicht, kann der Lieferant die abgeführte Umsatzsteuer vom Finanzamt zurückfordern. Im Gegenzug verlangt das Finanzamt vom insolventen Unternehmer die Vorsteuer zurück. Diese Forderung ist jedoch wegen der Zahlungsunfähigkeit des Unternehmers wirtschaftlich wertlos und nicht beizutreiben. Sie wird daher niedergeschlagen.
Diese Fälle sind derzeit nicht zu vermeiden, weil sie auf der gesetzlichen Regelung beruhen, dass die Vorsteuererstattung nicht von der Bezahlung der Umsatzsteuer abhängt. Diese Systematik machen sich auch Umsatzsteuerbetrüger zu Nutze.
Das Staatsministerium untersucht zur Zeit verschiedene Möglichkeiten, um den Umsatzsteuerbetrug zu bekämpfen. Dabei werden in Modellversuchen die Folgen möglicher Gesetzesänderungen simuliert. Die Ergebnisse könnten auch für die oben dargestellte Problematik von Bedeutung sein.
26.5.2 Vorläufiger „schwacher" Insolvenzverwalter
Das Gericht hat bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens alle Maßnahmen zu treffen, um eine den Gläubigern nachteilige Veränderung der Vermögenslage des Schuldners zu verhindern. Die Gerichte setzen hierzu einen vorläufigen Insolvenzverwalter ein. In der Regel wird ein sog. „schwacher" Insolvenzverwalter bestellt. Dieser hat selbst keine Verwaltungs- oder Verfügungsbefugnis, die Verfügungen des Schuldners bedürfen aber seiner Zustimmung.
Führt der insolvente Unternehmer unter Aufsicht des vorläufigen „schwachen" Insolvenzverwalters sein Unternehmen fort, stellt er wie jeder Unternehmer seinen Kunden Umsatzsteuer in Rechnung. Die vereinnahmte Umsatzsteuer muss er an das Finanzamt abführen. Hierfür benötigt er die Zustimmung des Insolvenzverwalters. Diese wird aber in vielen Fällen nicht erteilt. Der vorläufige „schwache" Insolvenzverwalter ist hierzu nicht verpflichtet.
Diese vereinnahmten und nicht an das Finanzamt abgeführten Umsatzsteuern reichern so die Insolvenzmasse an und werden falls es zu einer Verteilung kommt an alle Insolvenzgläubiger quotal ausbezahlt.
In 2004 und den ersten drei Monaten in 2005 summierten sich derartige Rückstände in Bayern auf insgesamt 22,6 Mio €, die größtenteils nicht realisiert werden können.
Das Bundesjustizministerium hat im Juni 2005 einen Gesetzentwurf zur Änderung der Insolvenzordnung erarbeitet, um diese Steuerausfälle zu verhindern.
26.6 Bearbeitungsqualität
Die Qualität der Vollstreckung lässt sich daran messen, ob eine effiziente, zeitnahe und konsequente Bearbeitung erfolgt. Hierzu gehört es, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse der Vollstreckungsschuldner ausreichend ermittelt, vorhandene Vollstreckungsmöglichkeiten zeitnah genutzt werden und das Ansteigen der Verbindlichkeiten möglichst vermieden wird.
Erfahrungsgemäß ist die Vollstreckung bei niedrigeren Beträgen deutlich erfolgreicher als bei höheren. Obwohl Rückstände unter 50 000 € pro Vollstreckungsfall 39 % der beizutreibenden Steuern ausmachen, beträgt ihr Anteil bei den niedergeschlagenen Rückständen nur 26 %. Höhere Beträge werden dagegen überproportional häufig niedergeschlagen.
Die beiden Oberfinanzdirektionen (jetzt Landesamt für Steuern) haben bereits während der Prüfung die Vollstreckungsgrundsätze in Richtung einer zeitnahen und konsequenten Vollstreckung weiterentwickelt.
Der ORH hat 950 Vollstreckungsfälle mit unterschiedlicher Rückstandshöhe und Vollstreckungsdauer untersucht, um festzustellen, ob die Bearbeitungsweise den o.g. Anforderungen entspricht. Gleichzeitig sollten evtl. Fehlerschwerpunkte aufgezeigt werden. Der ORH hat festgestellt, dass über die Hälfte der geprüften Vollstreckungsfälle unzureichend bearbeitet war. Diese Fallauswahl ist jedoch nicht repräsentativ für alle Vollstreckungsfälle.3
Fehlerschwerpunkte
- Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Vollstreckungsschuldner wurden in einem Drittel der Fälle nicht ausreichend ermittelt; in 16 % der Fälle wurden nicht einmal die Steuerakten ausgewertet.
- Vollstreckungsmaßnahmen, die nach dem Inhalt der Akten möglich gewesen wären, unterblieben in 10 % der Fälle.
- In der Regel wurde zwar zeitnah mit der Vollstreckung begonnen, in 25 % der Fälle waren aber während des Verfahrens unbegründete Bearbeitungspausen, z.T. über Jahre hinweg, festzustellen.
- In 17 % der Fälle wurden Vollstreckungsaufschübe gewährt, obwohl die Steuerrückstände nicht zurückgeführt wurden, sondern sich sogar weiter erhöht haben. Die durchschnittliche Laufzeit betrug 34 Monate, die Rückstände waren um durchschnittlich mehr als 30 000 € gestiegen.
- Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gerade im Bereich der Vollstreckung zu beachten. Dennoch sollten in bedeutenden Vollstreckungsfällen einschneidende Maßnahmen nicht ausgeschlossen sein. Hierbei ist auch zu sehen, dass eine inkonsequente Vollstreckung den säumigen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Steuer zahlenden Konkurrenten verschafft.
- Von der Möglichkeit, in bedeutenden Fällen die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung zu verlangen, wurde zu wenig Gebrauch gemacht.
- Ebenso unterblieben rückstandsunterbindende Maßnahmen, wie der Antrag auf Untersagung des Gewerbes oder der freiberuflichen Tätigkeit bzw. die Stellung eines Insolvenzantrags. In den beanstandeten Fällen waren die Rückstände i.d.R. Umsatzsteuer um 72 000 € pro Fall angestiegen, die durchschnittliche Vollstreckungsdauer lag bei über fünf Jahren.
- Durchschnittlich befanden sich die geprüften Fälle 29 Monate in der Vollstreckung. Bei einzelnen Finanzämtern war der Zeitraum mit 46 Monaten deutlich höher.
26.7 Insolvenzanfechtungen
Eine konsequente Vollstreckung ist auch erforderlich, um Insolvenzanfechtungen auszuschließen.
Voraussetzung für eine Anfechtung ist u.a., dass das Finanzamt von der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit des Vollstreckungsschuldners wusste. Diese Kenntnis wird umso wahrscheinlicher, je länger das Vollstreckungsverfahren erfolglos betrieben wird. Dies gilt insbesondere bei weiter steigenden Rückständen. In der Praxis sind bislang vor allem freiwillige Zahlungsvereinbarungen mit dem Finanzamt im Rahmen eines Vollstreckungsaufschubs betroffen. Es ist zu befürchten, dass auch die Tätigkeit der Liquiditätsprüfer 4, die seit 2005 flächendeckend eingesetzt sind, Ansatzpunkte für Anfechtungen bieten wird.
Anfechtbar sind sowohl Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamts als auch freiwillige Zahlungen des Schuldners. Diese können sogar rückwirkend für einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren angefochten werden.
Bei erfolgreicher Anfechtung müssen die entsprechenden Beträge zugunsten der Insolvenzmasse ausbezahlt werden. Im Jahr 2004 und den ersten drei Monaten in 2005 zahlten die bayerischen Finanzämter bereits insgesamt 10,4 Mio € wieder zurück.
Mit dem oben erwähnten Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums soll auch diese Problematik entschärft werden.
26.8 Bewertung des Ergebnisses und Folgerungen
Die Höhe der Veranlagungssteuerrückstände erfordert eine effiziente, zeitnahe und konsequente Vollstreckung.
Die Bearbeitungsqualität in den Vollstreckungsstellen muss verbessert werden. Hierzu müssen die Vorgaben der Oberfinanzdirektionen (jetzt Landesamt für Steuern) für eine effiziente, zeitnahe und konsequente Vollstreckungstätigkeit in der Praxis umgesetzt werden.
Die deutliche Unterbesetzung wird der Bedeutung der Vollstreckungsstelle nicht gerecht. Es muss ausreichendes und geeignetes Personal zur Verfügung gestellt werden. Bei der Personalverteilung muss auf eine ausgeglichene Besetzung geachtet werden.
In Insolvenzverfahren entstehen hohe Umsatzsteuerausfälle. Diese sind nach der gegenwärtigen Rechtslage systembedingt nicht zu vermeiden. Eine etwaige Gesetzesänderung hätte aber weitreichende Folgen, die über die Insolvenzverfahren hinausgingen. Die dargestellte Problematik sollte daher zunächst in die laufenden Modellversuche einbezogen werden, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen.
Die Bestellung von vorläufigen „schwachen" Insolvenzverwaltern verursacht erhebliche Steuerausfälle. Auch Insolvenzanfechtungen führen zu hohen Steuerrückzahlungen. Diese Gefahr kann durch eine zeitnahe und konsequente Vollstreckung reduziert werden.
Diese Steuerausfälle ließen sich durch eine Änderung der Insolvenzordnung bezüglich der vorläufigen „schwachen" Insolvenzverwalter sowie der Anfechtung vermeiden.
26.9 Stellungnahme der Verwaltung
Die Verwaltung wird, soweit noch nicht geschehen, die Anregungen des ORH umsetzen. Das Staatsministerium weist darauf hin, dass - wie auch vom ORH ausgeführt - die Auswahl der Fälle bei der Untersuchung der Bearbeitungsqualität nicht repräsentativ sei. Darüber hinaus sollten bei den Niederschlagungen nur die im aktuellen Jahr niedergeschlagenen Beträge betrachtet werden. Die von Bayern mitgetragene Gesetzesinitiative, mit der die Insolvenzordnung bezüglich der vorläufigen „schwachen“ Insolvenzverwalter sowie der Anfechtungsmöglichkeiten geändert werden sollte, sei im Bundesrat gescheitert.
26.10 Schlussbemerkung des ORH
Gerade auch im Hinblick auf das Scheitern der Gesetzesinitiative hat eine konsequente und effiziente Vollstreckungstätigkeit besondere Bedeutung. Der ORH wird daher verfolgen, ob die Maßnahmen der Verwaltung ausreichen, um die festgestellten Mängel wirksam zu bekämpfen.
1) Lohn-, Einkommen-, Umsatz-, Körperschaft-, Grunderwerb- und Erbschaftssteuer ohne Nebenleistungen wie beispielsweise Verspätungs- und Säumniszuschläge.
2) Rückstände werden niedergeschlagen, wenn die Verwaltung die Vollstreckung als aussichtslos beurteilt. Niedergeschlagene Beträge werden jedoch bis zur Verjährung überwacht, um ggf. neue Vollstreckungsmöglichkeiten wahrnehmen zu können.
3) Schwierige und unzureichend bearbeitete Fälle weisen häufig eine längere Verfahrensdauer auf; sie sind deshalb in den noch laufenden Verfahren, aus denen die Prüfungsfälle ausgewählt wurden, überproportional oft vertreten.
4) Liquiditätsprüfer sollen in bedeutenderen Fällen die wirtschaftliche Lage der Schuldner klären.