Jahresbericht 2007

TNr. 22: Steuerfestsetzung bei bedeutenden Einzelfällen

Steuerrisiko

Die Veranlagungsqualität bei Steuerfällen mit hohem Risikopotenzial ist mangelhaft und führt zu einem vorsichtig geschätzten Steuerausfall von mindestens 39 Mio € jährlich. Die Auswahl gründlich zu prüfender Steuerfälle und der Personaleinsatz richten sich zu wenig am möglichen Steuermehrertrag aus. Ein Qualitätsmanagement ist in der Praxis noch nicht umgesetzt.

22.1    Ausgangslage und Prüfungsumfang


Die Veranlagungsstellen in den Finanzämtern veranlagen jährlich ca. 4,7 Mio Einkommensteuerfälle.1 Zur Bewältigung der Arbeitsmenge müssen Schwerpunkte gesetzt werden. Fälle mit höherem Steuerausfallrisiko sind gründlicher als andere zu bearbeiten.

Der ORH hat bereits 2001 das bundesweit abgestimmte maschinelle Verfahren zur Auswahl intensiv zu prüfender Fälle (sog. Intensivprüffälle) kritisiert und zusätzliche Anstrengungen zur Qualitätssicherung gefordert.2 Er untersuchte nun in einem breiteren Rahmen bei fünf Finanzämtern die Arbeitsqualität von 3.342 Veranlagungen,3bei denen ein hohes Risikopotenzial vermutet wurde. Zwei Drittel dieser Fälle betrafen Steuerfestsetzungen mit Einkünften von jährlich über 250.000 €. Ein Drittel waren bedeutende Steuerfälle (unter 250.000 €) mit erfahrungsgemäß fehlerträchtigen Sachverhalten, z. B. Veräußerung von Betrieben und wesentlichen Beteiligungen, ausländische Einkünfte, auffällig hohe Werbungskosten, außerordentliche Einkünfte.

Bei den ausgewählten Fällen war regelmäßig eine gründliche Bearbeitung vorgesehen, weil sie

  • maschinell nach den Vorjahreswerten zur Intensivprüfung ausgewählt wurden,
  • einen bestimmten, punktuell zu prüfenden Sachverhalt enthielten,
  • personell als risikoträchtiger Fall eingestuft waren.


Die nach diesen Kriterien vorhandenen Risikofälle betrafen durchschnittlich nur knapp 2 % der Gesamtfallzahlen in der Allgemeinen Veranlagungsstelle.

22.2    Untersuchungsergebnis


Die Arbeitsqualität wurde anhand von Steuer- und Zinsausfällen beurteilt. Der Untersuchung wurden folgende Kriterien zugrunde gelegt:

  • Steuer- und Zinsausfälle, bei denen die Steuerfestsetzungen aufgrund der vorhandenen Angaben fehlerhaft waren,
  • Steuer- und Zinsausfälle, bei denen der Sachverhalt nicht richtig ermittelt wurde. In diesen Fällen wurde der mögliche Ausfall geschätzt.4

 

Zahlenübersicht: Ergebnis der Untersuchung

Die festgestellte Beanstandungsquote von insgesamt 34,4 % ist deutlich zu hoch. Nach vorsichtiger Schätzung beträgt der jährliche Steuerausfall mindestens 39 Mio €.5 In Großstädten und Ballungsräumen ist der Ausfall am höchsten.

Eine unzureichende Arbeitsweise hat der ORH auch bei Abschlusszahlungen von über 100.000 € festgestellt. In diesen Fällen wurden Vorauszahlungen mehrfach nicht oder nicht ausreichend festgesetzt, obwohl die Gründe hierfür eindeutig erkennbar waren. In 46 Fällen war ein Zinsausfall von 2,4 Mio € festzustellen.6 Hierin ist ein Einzelfall mit 1,2 Mio € enthalten. In der Hälfte der beanstandeten Fälle wurden Mitteilungen anderer Finanzämter zur Anpassung von Vorauszahlungen nicht ausgewertet.

22.3    Risikomanagement

22.3.1    Fallauswahl und Fallbearbeitung


Derzeit besteht in den Allgemeinen Veranlagungsstellen noch kein automationsgestütztes Risikomanagement. Deshalb muss auf andere Weise sichergestellt werden, dass zumindest die offensichtlichen Risikofälle erkannt und gründlicher geprüft werden. Nach dem Prüfungsergebnis können die bisherigen Methoden zu Risikoauswahl und Fallbearbeitung noch nicht zufriedenstellen. Die maschinelle Auswahl der Intensivprüffälle orientiert sich nach wie vor an den Vorjahreswerten. Daten der aktuellen Steuererklärungen werden dagegen zu wenig berücksichtigt.

Die Bearbeitungsintensität sollte sich grundsätzlich am fiskalischen Gehalt des Steuerfalls ausrichten. In Steuerfällen mit regelmäßig sehr hohen Einkünften liegt überdurchschnittliches Risikopotenzial. Die intensive, qualitativ hochwertige Bearbeitung dieser relativ wenigen Fälle muss gewährleistet sein.

22.3.2    Personaleinsatz


Die Sollbesetzung für die Allgemeinen Veranlagungsstellen richtet sich hauptsächlich nach der Zahl der Einkommensteuer‑ und Feststellungsfälle. Die Durchschnittsbelastung liegt derzeit bei 2.047 Fällen für eine Einheit mit drei Bearbeitern. Spürbar geringere Fallzahlen ergeben sich wegen besonderer Personalzuschläge bei der Sollbesetzung für die Finanzämter in München. Diese Berücksichtigung von Risikopotenzialen hält der ORH für richtig und notwendig. Eine entsprechende Differenzierung bei der Personalzuteilung müsste auch für weitere struktur‑ und einkommensstärkere Regionen vorgenommen werden.

Im Gegensatz hierzu liegt die tatsächliche Besetzung in diesen Finanzamtsbezirken, insbesondere in den Großräumen München und Nürnberg bis zu 19 % unter der Sollbesetzung. Obwohl in diesen Regionen in den Allgemeinen Veranlagungsstellen mindestens 70 Arbeitskräfte fehlen, erzielen diese Stellen deutlich höhere Ergebnisse. Die Besetzung in den strukturschwächeren Regionen ist dagegen erheblich besser, manche Veranlagungsstellen liegen dort sogar über dem Soll.

Das Risikomanagement sollte deshalb bereits bei der Personalverteilung für die Finanzämter einsetzen und die unterschiedlichen Risikopotenziale in den verschiedenen Regionen Bayerns stärker berücksichtigen.

22.4    Qualitätsmanagement


Im Januar 2004 wurde das seit 1998 pilotierte Projekt „Leistungsvergleich zwischen Finanzämtern“ in den Veranlagungsstellen eingeführt. Es sollten insbesondere die Leistungsfähigkeit und Effizienz der Steuerverwaltung gesteigert und die Arbeitsqualität bei den Veranlagungen verbessert werden.

Dieses Ziel des Leistungsvergleichs konnte bisher auch neun Jahre nach Pilotierungsbeginn nicht erreicht werden. Die Bearbeiter erhalten derzeit noch zu wenig Hinweise auf Prüfungsschwerpunkte. Die notwendigen Programme zur Analyse der umfangreichen Ergebnisdaten stehen wegen der länderübergreifenden Koordinierung noch nicht zur Verfügung. Auch das angestrebte Prinzip „Best Practice“ bietet bisher nur theoretische Lösungsansätze. Keines der geprüften Finanzämter konnte das nach dem Prinzip „Selbststeuerung vor Fremdsteuerung“ erwartete Qualitätsmanagement vorweisen. Hierzu wären arbeitsaufwendige Analysen von Einzelfällen erforderlich. Eine positive Auswirkung auf die Bearbeitung der untersuchten bedeutenden Steuerfälle mit hohen Steuerausfallrisiken war bisher nicht messbar.

22.5    Stellungnahme der Verwaltung


Nach Auffassung des Staatsministeriums hat die Verwaltung auf die geschilderten Defizite bereits reagiert. Sie arbeite seit geraumer Zeit an der Erweiterung und Optimierung des Risiko- und Qualitätsmanagements. Vorbereitung und Umsetzung der dazu notwendigen Maßnahmen seien komplex und benötigten Zeit, bis ihre Wirkung sichtbar werde und gemessen werden könne. Ein maschinelles Risikomanagementsystem sei derzeit nur in den Arbeitnehmerstellen eingesetzt. Es werde schrittweise auf die maschinelle Überprüfung von Steuererklärungen mit Einkünften aus Gewerbebetrieb, selbständiger Arbeit, Vermietung und Verpachtung sowie Alterseinkünfte ausgedehnt. Die Voraussetzungen hierfür seien teilweise mit der Einführung der Anlage EÜR (Einnahmenüberschussrechnung) und den Kennziffern der Anlage V (Vermietung und Verpachtung) geschaffen worden. Der inzwischen bundeseinheitlich festgelegte Risikofilter werde den Finanzämtern noch im 2. Halbjahr 2007 zum Einsatz angeboten.

Die Steuerverwaltung habe im Übrigen Leitfäden und Checklisten eingeführt und Ertragsteuer-Fachinformationen bekannt gegeben. Ferner würde ab März 2008 eine Liste bedeutender Steuerfälle bereitgestellt werden.

Sobald ein maschinelles Risikomanagement flächendeckend im Einsatz sei, werde auch die Personalbedarfsberechnung angepasst. Die gegenwärtige Berücksichtigung von pauschalen Ballungsraumzuschlägen könnte dann durch zielgenaue Berechnungen ersetzt werden.

Der wirtschaftliche Erfolg des Leistungsvergleichs lasse sich an der Steigerung der Abweichungsquoten und Mehrergebnisse ablesen. Gegenüber 2004 seien die Mehrergebnisse 2006 in der Allgemeinen Veranlagungsstelle um 24,8 Mio € gestiegen.

22.6    Schlussbemerkung des ORH


Der ORH verkennt nicht die Bemühungen der Verwaltung zur Qualitätssicherung. Die festgestellten Fehler bei einem sehr kleinen Teil der Fälle führen aber zu Steuerausfällen, die deutlich über der von der Verwaltung geltend gemachten Ergebnissteigerung liegen. Unabhängig von einer künftig vorgesehenen automationsgestützten Risikoerkennung muss sichergestellt werden, dass die bereits nach den bisherigen Methoden ausgewählten Risikofälle gründlicher bearbeitet werden. Die Verwaltung muss Personal vorrangig dort einsetzen, wo das Risikopotenzial für Steuerausfälle am höchsten ist.

Die ausreichend intensive Bearbeitung von risikobehafteten Steuererklärungen hängt auch von der richtigen Kombination von personeller Ausstattung, organisatorischer Entlastung und gesetzgeberischer Unterstützung ab. Hierzu gehören ein Abbau von Verwaltungsarbeiten durch verbesserte IT-Unterstützung bei der Risikoerkennung, eine Zunahme der elektronischen Abgabe von Steuererklärungen sowie die Übermittlung von Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen in digitaler Form. Dieses Anliegen sollte von Bayern bei der Steuergesetzgebung verstärkt unterstützt werden.


1) Davon 1,9 Mio Fälle Allgemeine Veranlagungsstellen und 2,8 Mio Fälle Arbeitnehmerstellen.

2) ORH-Bericht 2001 TNr. 29. 

3) Ohne Arbeitnehmerstellen.

4) Die möglichen Auswirkungen von Ermittlungsdefiziten, die lediglich ein Risiko darstellen, wurden nur zu einem Fünftel als Steuerausfall gewertet.

5) Eine Hochrechnung der 3.342 untersuchten Fälle auf derartige Fälle ergab einen Steuerausfall von 78 Mio €. Davon wurde ein Sicherheitsabschlag vorgenommen, der der Untergrenze des statistischen Konfidenzintervalls entspricht.

6) Der Zinsausfall wurde mit einem Refinanzierungszinssatz von 4% geschätzt.