Jahresbericht 2010

TNr. 19: Umsatzsteuerhinterziehung: Karussellgeschäfte ausbremsen

Kettenkarussell im Gegenlicht, © lagom/Fotolia.de

Durch Umsatzsteuerhinterziehung mit kriminellen Karussell- oder Kettengeschäften gehen in Deutschland jährlich mindestens 2 Mrd. € verloren. Diese Machenschaften können im derzeitigen Umsatzsteuersystem von den Steuer- und Strafverfolgungsbehörden nicht wirksam be­kämpft werden. Eine Reform des Umsatzsteuersystems ist über­fällig.

19.1 Ausgangslage


Die Umsatzsteuer (oft Mehrwertsteuer genannt) ist mit einem bundesweiten Steuer­aufkommen von 180 Mrd. € jährlich die aufkommensstärkste Steuer.

Gleichzeitig ist das System der Umsatzsteuer sehr betrugsanfällig. Das systembe­dingte Risiko, das die Umsatzsteuer von anderen Steuerarten unterscheidet, liegt im Vorsteuerabzug. Anhand des nachfolgenden Beispiels wird die Grundsystematik der Umsatzsteuer erläutert.

19.1.1 Systematik des Vorsteuerabzugs bei der Umsatzsteuer

 

 

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Ein Unternehmer A liefert an einen Unternehmer B Waren im Wert von 100 €. Hier­für fallen zusätzlich 19 € Umsatzsteuer an. Der Unternehmer B bezahlt den Kauf­preis und die Umsatzsteuer, also 119 €, an den Unternehmer A. Dieser muss die 19 € Umsatzsteuer an das Finanzamt abführen. Verwendet B die Leistung für sein Unternehmen, kann er die Umsatzsteuer in Höhe von 19 € vom Finanzamt zurück­fordern (Vorsteuerabzug). Dieser Vorsteuerabzug hängt nicht davon ab, dass der Unternehmer A die Umsatzsteuer tatsächlich ans Finanzamt abgeführt hat. Erfor­derlich sind lediglich eine umsatzsteuerpflichtige Leistung und eine entsprechende Rechnung hierüber.

19.1.2 Funktionsweise eines Umsatzsteuerkarussells


Dies machen sich Kriminelle zunutze. Im Beispielsfall kann sich der Unternehmer B die Vorsteuer vom Finanzamt auszahlen lassen, obwohl der Unternehmer A die ent­sprechende Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abgeführt hat.

Um den Steuerbehörden die Aufdeckung dieser Betrugsfälle zu erschweren, kon­struieren kriminelle Banden sog. Ketten- oder Karussellgeschäfte.

Hierzu werden Firmengeflechte mit Strohmännern, Scheinfirmen und tatsächlich im Geschäftsleben aktiven Firmen aufgebaut. So werden Wirtschaftsgüter zum Teil über mehrere Staaten hinweg gehandelt. Die Vorsteuer wird beim Finanzamt geltend gemacht, die zu zahlende Umsatzsteuer aber von einem oder mehreren Unterneh­mern in der Lieferkette nicht an das Finanzamt abgeführt. Ist die Vorsteuer ausbe­zahlt worden, ist das Geld für den Staat in der Regel verloren. Es ist daher erforder­lich, diese Fälle von Steuerhinterziehung bereits vorher zu erkennen. Wie jahre­lange Erfahrungen zeigen, ist dies selbst mit hohem Personal- und Technikeinsatz nicht zu gewährleisten.

Die Banden sind im Allgemeinen gut informiert und organisiert. Sie nutzen die Schwach­stellen im System gezielt aus und versuchen, bekannte Betrugsmuster zu vermeiden. So werden längst nicht mehr nur Handys oder Computerteile bei den Kettengeschäf­ten gehandelt, die Palette reicht von Kartoffeln bis hin zu Emissionsrechten.

Allein die Masse der drei Milliarden Rechnungen (Schätzung für 2004), aus denen jährlich Vorsteuererstattungen beantragt werden, macht es für die Behörden sehr schwer, davon die Fälle der Steuerhinterziehung rechtzeitig zu erkennen. Weiter er­schwert wird die Aufdeckung dadurch, dass sich die zum Betrug benutzten Liefer­ketten zum Teil über mehrere Staaten erstrecken. Das erfordert eine internationale Zusammenarbeit auch der Behörden. Diese ist aber innerhalb der EU nicht schlag­kräftig und schnell genug, um Betrügereien zuverlässig rechtzeitig erkennen zu kön­nen. Die Einschaltung von Strohmännern, die Gründung von Scheinfirmen und der Wegfall der Grenzkontrollen innerhalb der EU erschweren die Aufdeckung zusätzlich.

Nicht nur das Erkennen der Fälle ist schwierig, auch die Strafverfolgung ist sehr aufwendig. Häufig sind staatenübergreifend koordinierte zeitgleiche Durchsuchun­gen bei einer Vielzahl von Firmen notwendig. In einem in Bayern aufgedeckten Fall waren am Durchsuchungstag 1.700 Ermittler im Einsatz. Dennoch werden oft nur die mittellosen Strohmänner gefasst. Die Drahtzieher und das Geld bleiben verschwun­den.

19.2 Auswirkungen der kriminellen Kettengeschäfte


Die Steuerausfälle aufgrund der oben geschilderten kriminellen Umsatzsteuer-Ket­tengeschäfte sind nicht genau bezifferbar. Experten schätzen, dass sich der jährliche Schaden auf mindestens 2 Mrd. € beläuft. Setzt man das bundesweite Umsatzsteuer­aufkommen ins Verhältnis zu den bayerischen Einnahmen aus der Umsatzsteuer, würden hiervon rd. 90 Mio. € auf Bayern entfallen. Hinzu kommt, dass sich die Ban­den durch die Umsatzsteuerhinterziehung Wettbewerbsvorteile verschaffen. Redliche Unternehmer sind nicht mehr konkurrenzfähig, Arbeitsplätze werden vernichtet.

Der derzeitige Zustand ist nicht hinnehmbar. Sind die kriminellen Strukturen erst ein­mal vorhanden, gelingt es den Tätern immer wieder, sich neue Betätigungsfelder zu erschließen. So wurden z. B. beim Handel mit CO2-Emissionsrechten in erheb­lichem Umfang Hinterziehungsfälle aufgedeckt. Die europäische Polizeibehörde Euro­pol schätzt den Schaden durch den betrügerischen Handel mit CO2-Emissionsrechten Ende 2009 in Europa auf über 5 Mrd. €. In einigen Staaten könnten bis zu 90% des Volumens im Markt für Verschmutzungsrechte auf Betrug zurückgehen. Die Ermitt­lung in diesen Fällen ist besonders schwierig, da die Emissionsrechte ohne Waren­bewegung nur über den Computer gehandelt werden. Innerhalb kürzester Zeit kann so ein Verkauf über mehrere Ländergrenzen hinweg erfolgen. Bei den Tätern han­delt es sich oft um Personen, die sich nur gelegentlich in Deutschland aufhalten und Büroserviceunternehmen in Flughafennähe für ihre Geschäfte benutzen. Zahlungen erfolgen häufig an den Vorlieferanten im Ausland und sind dadurch dem Zugriff der deutschen Behörden entzogen.

Dies zeigt, dass eine wirksame Bekämpfung der Hinterziehung bereits vorbeugend erfolgen muss. Der Prävention sind aber Grenzen gesetzt. Redliche Unternehmer dürfen nicht über Gebühr mit Nachweispflichten oder Einschränkungen überzogen werden. Zudem soll die ihnen zustehende Vorsteuer zeitnah ausbezahlt werden. Bei der internationalen Zusammenarbeit ist auch der Datenschutz zu beachten.

19.3 Bisherige Gegenmaßnahmen


Gesetzgebung und Vollzugsorgane haben, nachdem die finanziellen Dimensionen des Steuerausfalls erkennbar wurden, mit umfangreichen und aufwendigen Maß­nahmen auf die Hinterziehungen reagiert.

Auf Ebene der EU befinden sich Strukturen zur Bekämpfung des internationalen Umsatzsteuerbetrugs erst im Aufbau. Bei der Steuerverwaltung des Bundes und der Länder bildet die Betrugsbekämpfung dagegen mittlerweile einen Arbeitsschwer­punkt. Im Rahmen des Risikomanagements wurden z. B. Zentralstellen für Unter­nehmensgründungen eingerichtet, Risikomanager installiert und die maschinelle Fall­überwachung verfeinert.

Vom Bundesgesetzgeber wurde u. a. ein eigenes Gesetz zur Bekämpfung von Steu­erverkürzungen bei der Umsatzsteuer und anderen Steuern[48] erlassen. Wegen euro­parechtlicher Vorgaben sind die Vorgehensmöglichkeiten auf nationaler Ebene aller­dings eingeschränkt. Deutschland hatte eine grundlegende Änderung des Systems für notwendig erachtet. Auf EU-Ebene ist dieses Vorhaben bisher gescheitert. Mit der Rechtsänderung sollte die Abführungspflicht für die Umsatzsteuer auf den Erwer­ber übergehen (sog. Reverse-Charge-Verfahren). Beim Reverse-Charge-Verfahren hat derselbe Unternehmer - nämlich der Erwerber - die Verpflichtung, die Umsatz­steuer abzuführen, und zugleich die Berechtigung, die Vorsteuer beim Finanzamt gel­tend zu machen. Da die Höhe der Umsatzsteuerschuld der des Vorsteuerabzugs entspricht, entfällt die Vorsteuererstattung, eine Steuerhinterziehung ist so nicht mehr möglich.

Die EU hat das Reverse-Charge-Verfahren 2006 für bestimmte betrugsanfällige Bereiche wie den Altmetallhandel und die Leistungen von Gebäudereinigern zuge­lassen. Mittlerweile hat sie den Mitgliedstaaten das Reverse-Charge-Verfahren auch für den Handel mit CO2-Emissionsrechten eingeräumt. In den Niederlanden, die be­reits im Alleingang diese Regelung eingeführt hatten, sowie in Frankreich und Groß­britannien, die ebenfalls national eine Steuerbefreiung für diese Umsätze eingeführt hatten, ist seitdem das Handelsvolumen mit CO2-Emissionsrechten spürbar zurück­gegangen.

Auch Deutschland hat das Reverse-Charge-Verfahren für den Handel mit CO2-Emis­sionsrechten zum 01.07.2010 eingeführt. Zudem ist im Entwurf des Jahressteuer­gesetzes 2010 vorgesehen, das Verfahren auch auf den Altmetallhandel und die Leistungen von Gebäudereinigern auszudehnen. Der ORH hatte bereits 2007 gefor­dert, für Gebäudereiniger dieses Verfahren einzuführen.[49]

19.4 Empfehlungen des ORH


Der ORH hält im Hinblick auf die erheblichen Steuerausfälle, das enorme Betrugs­potenzial und den erheblichen Verfolgungsaufwand bei Steuerverwaltung, Polizei und Justiz eine Reform des Umsatzsteuersystems für überfällig. Dies kann wirksam nur auf EU-Ebene erfolgen. In Anbetracht der Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von betrügerischen Kettengeschäften sollten in Deutschland die Möglichkeiten zur Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens in betrugsanfälligen Bereichen ausge­schöpft und erweitert werden.

Angesichts der hohen Steuerausfälle hält es der ORH für dringend erforderlich, alle Optionen zu prüfen und weiterzuverfolgen. So sollte auch die Einführung einer "Generellen Ist-Versteuerung mit cross-check" im Auge behalten werden. Dabei reicht das bloße Vorliegen einer Rechnung nicht mehr für den Vorsteuerabzug aus. Der Vorsteuerabzug kann erst erfolgen, wenn die Rechnung auch tatsächlich be­zahlt worden ist. Um diese Voraussetzung sicherzustellen, ist ein Kontrollverfahren (cross-check) vorgesehen.

Der ORH sieht vor allem das Finanzministerium in der Pflicht. Es hat gegen die Dar­stellung des ORH keine Einwendungen erhoben.

 


[48] Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz - StVBG- vom 19.12.2001, BGBl 2001 Teil I, Seite 3922.

[49]ORH-Bericht 2007 TNr. 23.