Jahresbericht 2016

TNr. 36: Steuererklärungen mit Nachdruck einfordern und Dauerschätzungsfälle reduzieren

Stempel "Steuerschätzung"; Bild: Finanzfoto - Fotolia.com
Zahlreiche Steuerpflichtige, auch mit hohen Einkünften, geben über viele Jahre hinweg keine Steuererklärungen ab. Die Finanzämter müssen alle ihre Möglichkeiten (z. B. Zwangsgeld, Verspätungszuschlag, Schätzung an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens) nutzen, damit die Steuerpflichtigen eine Steuererklärung abgeben.

Der ORH und das Staatliche Rechnungsprüfungsamt Augsburg haben 2014/2015 bei sechs FÄ das Verfahren bei der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Einkommensteuererklärungen untersucht. Schwerpunkt dieser Prüfung waren Steuerpflichtige, die seit mehreren Jahren keine Steuererklärungen mehr abgegeben haben.

36.1 Ausgangslage

Zur Veranlagung der Einkommensteuer sind grundsätzlich jährliche Erklärungen bis zum 31. Mai des Folgejahres abzugeben. Diese gesetzliche Abgabefrist kann verlängert werden. Falls die Steuererklärungen bis Fristablauf nicht abgegeben werden, stehen den FÄ verschiedene Maßnahmen zur Verfügung: Erinnerungen, Festsetzung von Verspätungszuschlägen (bis zu 10% der festgesetzten Steuer, höchstens 25.000 €) sowie Androhung und Festsetzung von Zwangsgeldern. Das einzelne Zwangsgeld darf 25.000 € nicht übersteigen, kann aber wiederholt festgesetzt werden. Wenn die Steuererklärungen dennoch nicht eingehen, müssen die Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden.

Bei der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen haben die FÄ grundsätzlich alle Erkenntnisse, deren Beschaffung und Verwertung zumutbar und möglich sind, einzubeziehen. Bei fehlenden Erklärungen dienen regelmäßig die Daten der Vorjahre als Schätzungsgrundlage.

36.2 Feststellungen

36.2.1 Fallzahlen

In den Jahren 2008 bis 2012 wurden in den Veranlagungsstellen (ohne Arbeitnehmerbereich) jährlich durchschnittlich bei 134.800 Veranlagungen zur Einkommensteuer die Besteuerungsgrundlagen geschätzt, weil die Steuererklärungen nicht oder nicht rechtzeitig eingingen. Dies entsprach 6,2% aller Einkommensteuerveranlagungen ohne Fälle der Arbeitnehmerstellen. Die Summe der Steuerfestsetzungen dieser Fälle betrug jährlich durchschnittlich 1.159 Mio. €.

Bei 58% dieser Schätzungsveranlagungen gingen nachträglich noch Steuererklärungen ein. Bei den verbleibenden 42% (jährlich über 56.000 Fälle) mit durchschnittlich 292 Mio. € Steuern pro Jahr verblieb es bei der Steuerfestsetzung aufgrund geschätzter Besteuerungsgrundlagen. Zwei Drittel dieser Steuern entfielen auf über 7.000 Einzelfälle mit festgesetzten Steuern von jeweils mehr als 10.000 €.

36.2.2 Zwangsgelder und Verspätungszuschläge

In den Jahren 2008 bis 2012 wurden durchschnittlich 1.300 Zwangsgelder fest-gesetzt; das entsprach knapp 1% der jährlichen Schätzungsveranlagungen. Das durchschnittlich festgesetzte Zwangsgeld betrug dabei 460 €. In mehr als zwei Dritteln der geprüften Schätzungsfälle mit hohem Einkommen wurden die festgesetzten Zwangsgelder bezahlt, eine Erklärung ging dennoch nicht ein. Eine wiederholte Festsetzung von Zwangsgeldern konnte der ORH nicht feststellen.

Bei durchschnittlich 72% der Schätzungsfälle wurden Verspätungszuschläge festgesetzt. Die Verspätungszuschläge betrugen durchschnittlich 1,8% der festgesetzten Steuer. Bei den Steuerfestsetzungen über 10.000 € sank dieser Wert auf 1,2%. Bei nahezu einem Drittel dieser Fälle betrug der festgesetzte Verspätungszuschlag höchstens 100 €.

36.2.3 Dauerschätzungsfälle

Bei der Prüfung der Schätzungsveranlagungen fielen 33.558 Steuerpflichtige auf, die im untersuchten Zeitraum 2008 bis 2012 für mindestens drei Jahre keine Steuererklärungen abgegeben hatten. Dies sind rd. 60% aller Schätzungsfälle, bei denen keine Steuererklärungen eingegangen sind.

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In 7.021 Fällen wurden sogar während des gesamten untersuchten Zeitraums von fünf Jahren keine Erklärungen abgegeben. Das Steueraufkommen dieser Fälle betrug jährlich über 40 Mio. €. Es wurden sogar Einzelfälle festgestellt, bei denen mehr als zehn Jahre lang wegen fehlender Erklärungen die Besteuerungsgrundlagen geschätzt wurden. Bei mehr als zwei Dritteln der untersuchten Einzelfälle wurden die festgesetzten Steuern und ggf. die festgesetzten steuerlichen Nebenleistungen bezahlt.

36.2.4 Schätzung der Besteuerungsgrundlagen

Bei Dauerschätzungsfällen werden die Anhaltspunkte für eine Schätzung im Lauf der Zeit immer unsicherer, je länger die letzte Steuererklärung zurückliegt. Häufig enthielten die Steuerakten keine ausreichenden Angaben über die Erwerbstätigkeit und die Einkommensquellen der Steuerpflichtigen. Zusätzliche Ermittlungen der FÄ über die Art und Höhe der Einkünfte hat der ORH nicht festgestellt.

Bei den Dauerschätzungsfällen wurden die Einkünfte häufig in nur geringem Maß erhöht, auch wenn die aufgrund der vorhergehenden Schätzung festgesetzte Steuerschuld bezahlt wurde. In Einzelfällen wurden die Gewinne ohne erkennbaren Grund sogar niedriger geschätzt als in den Vorjahren. Grundsätzlich stellte der ORH fest, dass die Gewinne sehr zurückhaltend geschätzt wurden.

Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen erfolgt i. d. R. unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Die unter dem Vorbehalt stehende Steuerfestsetzung ist bei der Veranlagung für das Folgejahr zu überprüfen. Bei den untersuchten Fällen erschöpfte sich die abschließende Prüfung nahezu ausschließlich auf die formelle Aufhebung dieses Vorbehalts. Eine Überprüfung auf Fehler und neue Erkenntnisse und ggf. Abänderung unterblieben.

36.2.5 Überwachung des Erklärungseingangs nach Schätzung

In den Schätzungsbescheiden wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärungen bestehen bleibt, auch wenn die Besteuerungsgrundlagen geschätzt wurden. Nach den Feststellungen des ORH wurde die Fallbearbeitung mit der Durchführung der Schätzung aber regelmäßig abgeschlossen. Maßnahmen zur Beibringung ausstehender Steuererklärungen, z. B. durch Zwangsmittel, wurden nach der Schätzungsveranlagung nur noch in äußerst wenigen Einzelfällen ergriffen.

36.3 Würdigung

Mit 6,2% kommen zu viele Steuerpflichtige mit Gewinneinkünften ihrer gesetzlichen Pflicht zur Abgabe der Steuererklärungen nicht nach. Die FÄ müssen in diesen Fällen die Besteuerungsgrundlagen schätzen. Schätzungen bergen eine hohe Gefahr von unzutreffenden Steuerfestsetzungen und verursachen zudem für die FÄ in erheblichem Umfang Mehrarbeit.

36.3.1 Maßnahmen zur Vermeidung von Schätzungen nicht ausreichend

Insbesondere bei Steuerpflichtigen mit hohen Einkünften, die keine Steuererklärungen abgeben, müssen die gesetzlichen Möglichkeiten zur Einforderung der Erklärungen wirkungsvoller eingesetzt werden. Die bisher festgesetzten Zwangsgelder und Verspätungszuschläge sind aus Sicht des ORH deutlich zu niedrig. Damit lässt sich der notwendige Druck zur Abgabe von Steuererklärungen nicht ausüben.

36.3.2 Zahl der Dauerschätzungsfälle besorgniserregend hoch

Die hohe Zahl der Steuerpflichtigen, die über einen langen Zeitraum keine Steuererklärungen abgeben, ist besorgniserregend. Dies widerspricht dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Es muss vermieden werden, dass sich Steuerpflichtige ihrer Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen entziehen können. Dadurch können sie möglicherweise auch noch ein steuerlich günstiges Ergebnis erreichen.

36.3.3 Zurückhaltende Schätzung der Besteuerungsgrundlagen

Die Gewinne wurden in den meisten Fällen nur sehr zurückhaltend geschätzt. Der Bundesfinanzhof hat bestätigt, dass sich das FA bei Schätzung der Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Erklärungen an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren kann, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will.[1]

Im Zuge der Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung für den Schätzungsbescheid des Vorjahres ist eine abschließende Bearbeitung mit nochmaliger Prüfung der Schätzungsgrundlagen und der Verwertung von zwischenzeitlich eingegangenen neuen Erkenntnissen unerlässlich. In Zweifelsfällen muss durch erneute Anwendung von Zwangsmaßnahmen auf die Abgabe der Steuererklärungen hingewirkt werden.

36.3.4 Einforderung von Erklärungen trotz Schätzung

Bisher wird nach einer Schätzungsveranlagung der Erklärungseingang nicht mehr überwacht. Dadurch wird weitgehend den Steuerpflichtigen überlassen, für welchen Veranlagungszeitraum sie nach der Schätzung noch Steuererklärungen abgeben. Der ORH hält es für geboten, dass grundsätzlich die Abgabe der Steuererklärungen weiterverfolgt wird. Zumindest sollte dabei zwischen Schätzungsfällen mit hohen Einkünften und Fällen mit absehbar geringem Steuerausfallrisiko unterschieden werden.

36.3.5 Arbeitsentlastung durch Risikomanagement und EDV-Unterstützung

Zur Bewältigung der erforderlichen Mehrarbeit empfiehlt der ORH, auch die Schätzungsfälle in das maschinelle Risikomanagementsystem einzubeziehen. Durch die Aussteuerung der risikoarmen Fälle könnten Ressourcen zur intensiveren Bearbeitung insbesondere der Dauerschätzungsfälle mit hohem Steuerausfallrisiko geschaffen werden.

Auch bei den Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen hält der ORH eine mehr risikoorientierte Verfahrensweise mit einer Unterscheidung zwischen einmaligen Versäumnissen und notorischen Abgabeverweigerungen für sinnvoll.

Mit IT-Unterstützung könnte bei den Schätzungsveranlagungen eine deutliche Arbeitserleichterung und Zeitersparnis eintreten, wenn die für die Schätzung bekannten und relevanten Daten den Bearbeitern auf einem Datenblatt elektronisch bereitgestellt würden.

36.4 Stellungnahme der Verwaltung

Das LfSt teilt in seiner Stellungnahme mit, dass ein Teil der Empfehlungen des ORH durch Verbesserungen bei der EDV-Unterstützung, insbesondere beim Erinnerungs- und Zwangsgeldverfahren, bereits umgesetzt sei. Weitere technische Neuerungen seien geplant und kurz- bis mittelfristig einsetzbar.

Das LfSt beabsichtigt zudem, die Bearbeitungsempfehlungen des ORH in die Verwaltungsanweisungen zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen aufzunehmen.

36.5 Schlussbemerkung

Die Zahl der Fälle, in denen die Besteuerungsgrundlagen nur geschätzt werden, muss deutlich reduziert werden. Dies gilt insbesondere für Dauerschätzungsfälle mit hoher steuerlicher Relevanz. Die Verwaltung muss alle ihre Möglichkeiten nutzen, damit die Steuerpflichtigen eine Steuererklärung abgeben.

Sie muss mögliche Anreize für eine Nichtabgabe vermeiden. Bei Nichtabgabe der Erklärungen sollte sie konsequent Zwangsgelder festsetzen und sich an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren. Dies gilt insbesondere, wenn der Steuerpflichtige wiederholt keine Steuererklärung abgibt.

[1] BFH-Urteil vom 20.12.2000, BStBl. 2001 II S. 381.

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