TNr. 27: Neuordnung des landgerichtsärztlichen Dienstes notwendig

Für die 39 Landgerichtsärzte sind vier Staatsministerien zuständig. Dies verursacht hohen Abstimmungsaufwand und erschwert eine wirkungsvolle Aufsicht sowie effektive Strukturen. Die Landgerichtsärzte sind vielfach nicht ausgelastet.
Der ORH hat Zweifel, ob die Landgerichtsärzte mit den jetzigen Aufgaben überhaupt notwendig sind. Die Staatsregierung muss ein zukunftsorientiertes Konzept zur Neugestaltung des landgerichtsärztlichen Dienstes entwickeln. Dabei ist auch die Privatisierung von Aufgaben zu prüfen.
Das Staatliche Rechnungsprüfungsamt Ansbach hat in den Jahren 2010 und 2011 die Organisation und Wirtschaftlichkeit des gerichtsärztlichen Dienstes bei den Landgerichten über einen Zeitraum von drei Jahren (2007 bis 2009) geprüft.
27.1 Ausgangslage
In Bayern sind bei 22 LandgerichtenLandgerichtsärzte als eigenständige Dienststellen eingerichtet und mit 39 Landgerichtsärzten besetzt. Die Ärzte sind je nach fachlicher Ausrichtung entweder als Rechtsmediziner (z. B. zur hoheitlichen Aufgabe[1] der Leichenöffnungen) oder auch als Psychiater/Nervenärzte (z. B. für Begutachtungen in Schuldfähigkeits- und Betreuungsfragen) tätig. Die Gerichte sind bei der Einholung von Gutachten aber nicht verpflichtet, die Landgerichtsärzte als Gutachter zu bestellen. In Landgerichtsbezirken, in denen keine Landgerichtsärzte der jeweils benötigten fachlichen Ausrichtung bestellt sind, werden die notwendigen Gutachten entweder durch Private oder sonstige öffentliche Einrichtungen (insbesondere Hochschulinstitute) im notwendigen Umfang erbracht, z. B. durch die drei Rechtsmedizinischen Institute an den Hochschulen.[2]
Diese Organisation der ärztlichen Dienste für Gerichtsaufgaben hat in Bayern eine lange, 200-jährige Tradition; sie hat sich aber außerhalb Bayerns in keinem anderen Land durchsetzen können.
27.2 Feststellungen der Rechnungsprüfung
27.2.1 Organisation und Dienstaufsicht
Bis 1993 waren das Innenministerium, im Anschluss auch das Arbeits- und Sozialministerium und das frühere Ministerium für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz für den landgerichtsärztlichen Dienst zuständig. Seit 2003 gehören die Landgerichtsärzte zum Bereich des Umwelt- und Gesundheitsministeriums (Gesundheitsministerium); ihre Stellen sind hier veranschlagt.
Das Justizministerium stellt 21 Mitarbeiter für die Verwaltung der landgerichtsärztlichen Dienststellen; es trägt zudem die Sach- und Unterbringungskosten.
Zwei der Landgerichtsärzte sind dem Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München zugeordnet. Zusätzlich wurde der Institutsleiter zum Landgerichtsarzt bestellt. Das Institut für Rechtsmedizin gehört aber zum Geschäftsbereich des Wissenschaftsministeriums.
Die Dienstaufsicht üben die Regierungen (Ressortzuständigkeit des Innenministeriums) aus.
Sie beschränkte sich dabei auf turnusmäßige Besichtigungen. Nur zwei Regierungen führten sie zeitnah durch, fünf Regierungen z. T. seit über 20 Jahren nicht mehr. Die Regelung der Dienstaufsicht für den landgerichtsärztlichen Dienst ist Aufgabe des Gesundheitsministeriums. Tatsächlich hat das Gesundheitsministerium dazu jedoch keine geeigneten Vorgaben gemacht.
Die Landgerichtsärzte verursachten im Untersuchungszeitraum Personalvollkosten von 10 Mio. €. Nicht enthalten sind die Dienststellen in Coburg und Traunstein, da diese die Kostenvormerkungen nicht mitteilen konnten. Für die Verwaltungsmitarbeiter bei den Dienststellen wurden weitere 2,7 Mio. € aufgewendet. Die in Rechnung gestellten Leistungen beliefen sich im gleichen Zeitraum auf 6,8 Mio. €.
27.2.2 Auslastung und Ausstattung
Die Tagebuchaufzeichnungen der Landgerichtsärzte sind ein obligatorischer Tätigkeitsnachweis für die gerichtsärztlichen Dienststellen und müssen bei ordnungsgemäßer Führung wesentliche Grundlage für die Dienstaufsicht sein. Sie waren allerdings häufig unvollständig oder fehlten gänzlich.
So konnte die Auslastung der Landgerichtsärzte nur bei 27 Ärzten anhand der elektronisch oder schriftlich geführten Tagebücher geprüft werden. Danach erreichten nur 3 Mediziner eine Vollzeit-Auslastung. In 14 Fällen lag die Auslastung nach eigenen Angaben unter einem Drittel bis zu zwei Dritteln einer Vollzeitkraft. Bei 10 Ärzten waren die Angaben nicht ausreichend substantiiert, um sie im Einzelnen nachvollziehen zu können.
Die Auslastung der restlichen 12 Ärzte war wegen fehlender oder ungenügender Aufschreibungen überhaupt nicht überprüfbar.
8 Rechtsmediziner sind auf 7 Dienststellen verteilt; nur 5 davon führten noch Leichenöffnungen durch. Allerdings waren weder die erforderlichen Räumlichkeiten und Einrichtungen noch das notwendige Personal (zweiter Arzt, Präparator) bei den landgerichtsärztlichen Dienststellen vorhanden. Deshalb nutzten sie externe Einrichtungen bei einem Klinikum, einem Friedhof und bei einem Rechtsmedizinischen Institut gegen Bezahlung.
Die ordentlichen Gerichte und Staatsanwaltschaften nahmen die Landgerichtsärzte sehr unterschiedlich in Anspruch. So wurden im Untersuchungszeitraum mehr als 25.000 Gutachtensaufträge erledigt. Über die Hälfte der Aufträge bearbeiteten 6 der 22 landgerichtsärztlichen Dienststellen.
Laut ihren eigenen Aufzeichnungen haben die Rechtsmediziner bei den Landgerichten in drei Jahren nur 10 % aller Leichenöffnungen vorgenommen. Nicht enthalten sind die Landgerichtsärzte beim Institut für Rechtsmedizin in München, weil dort die genaue Zahl der Obduktionen unter Beteiligung der Landgerichtsärzte nicht festgestellt werden konnte. Der Rest verteilte sich auf die drei universitären Institute für Rechtsmedizin in München, Erlangen und Würzburg, die dafür i. d. R. auch besser geeignet sind.
Die Landgerichtsärzte erstellten im Rahmen ihrer Diensterfüllung ferner Gutachten für außerbayerische Justizbehörden. Für bayerische Fachgerichte, insbesondere die Sozialgerichte, fehlte ihnen die dienstliche Zuständigkeit. Gleichwohl erstellten Landgerichtsärzte in Nebentätigkeit etliche Gutachten für die Sozialgerichte.
Aus den geprüften Unterlagen ergab sich, dass eine ganze Reihe von Landgerichtsärzten Nebentätigkeiten in nicht unerheblichem Umfang ausübten. Die Genehmigungen erteilen die Regierungen. Der Vollzug der Nebentätigkeitsbestimmungen wies in einigen Fällen offensichtliche Mängel auf. Ferner bestanden Vollzugsdefizite bezüglich der Entgeltabführung aus Nebentätigkeiten für die Inanspruchnahme von Einrichtungen, Personal und Material.
Fast jeder Landgerichtsarzt ist sein eigener Dienststellenleiter, der von der Führung von Arbeitszeitaufzeichnungen befreit ist.
27.3 Bewertung des ORH
Aus Sicht des ORH ist der landgerichtsärztliche Dienst insgesamt in seiner bisherigen Form nicht aufrechtzuerhalten. Aus Gründen der Effizienz und Wirtschaftlichkeit sollte der Aufgabenteil der gerichtsärztlichen Dienste, der der klassischen Rechtsmedizin zuzurechnen ist, auf die personell, sachlich und räumlich bestens ausgestatteten Institute für Rechtsmedizin in München, Erlangen und Würzburg übertragen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass für den Freistaat wahrzunehmende Aufgaben grundsätzlich im Hauptamt und nicht im Nebenamt zu erfüllen sind (§ 5 Abs. 1 Bayerische Nebentätigkeitsverordnung bzw. § 5 Abs. 1 Bayerische Hochschullehrernebentätigkeitsverordnung).[3]
Nach Auffassung des ORH ist die Zuständigkeit von vier verschiedenen Ressorts ineffizient. Insbesondere kann dadurch die Dienstaufsicht nicht effektiv ausgeübt werden. Das Gesundheitsministerium hat die Anforderungen nicht ausreichend geregelt, und die Regierungen nehmen die Dienstaufsicht nicht ausreichend wahr. Erschwerend kommt aus Sicht des ORH hinzu, dass die meisten landgerichtsärztlichen Dienste als "Einmannbehörden" geführt werden.
27.4 Stellungnahme des Gesundheitsministeriums
Das Gesundheitsministerium als federführendes Ressort verzichtete auf eine Stellungnahme zum Jahresberichtsentwurf. Es verwies auf ein umfangreiches Konzept zur grundlegenden Neuordnung des landgerichtsärztlichen Dienstes, das noch intern und mit den beteiligten Ressorts abgestimmt werden müsse. Zu den Feststellungen der Rechnungsprüfung in der Prüfungsmitteilung nahm es wie folgt Stellung:
- Eine Neuorganisation des gerichtsärztlichen Dienstes bei den Landgerichten sei angebracht. Sie bedürfe aber einer intensiven und aufwendigen Abstimmung der vier beteiligten Staatsministerien. Dabei seien die Fragen der künftigen Struktur, der Dienstaufgaben, der Auslastung, der Berechnung des Personalbedarfs und der Fachaufsicht besonders zu berücksichtigen.
Es sei beabsichtigt, im Rahmen der Neuorganisation der landgerichtsärztlichen Dienststellen eine Zusammenfassung und Eingliederung von kleinen Dienststellen in größere Einheiten vorzunehmen. Im Gespräch sei eine organisatorische Orientierung an den drei Oberlandesgerichten München, Nürnberg und Bamberg unter Beibehaltung von 13 Außenstellen. Die Einbindung in die unteren Behörden der Gesundheitsverwaltung sei nicht zweckmäßig. Dort sei zu erwarten, dass aufgrund der Vielzahl der Ämter und der in der Folge auftretenden Zersplitterung Probleme der Dienst- und Fachaufsicht und der Vertretung auftreten könnten.
Grundsätzlich sei der Kritik an der unterschiedlichen Aufgabenwahrnehmung der Ärzte für Rechtsmedizin zuzustimmen. Eine Übertragung des rechtsmedizinischen Anteils auf die drei Institute für Rechtsmedizin werde derzeit geprüft. Weiterführende konzeptionelle Planungen würden mit dem gleichfalls betroffenen Justizministerium sowie mit dem Wissenschaftsministerium abgestimmt.
Für die Erstellung eines Konzeptes zur Neuorganisation sei aber noch Zeit erforderlich. - Eine fachliche Aufsicht der landgerichtsärztlichen Tätigkeit sei aufgrund unzureichender Fachkenntnis aufseiten der Regierungen kaum möglich und finde deshalb nur unzureichend statt. Inhalt und Tiefe der zukünftigen Überprüfungen durch die Regierungen würden vom Gesundheitsministerium in Abstimmung mit dem Justizministerium verbindlich festgelegt.
- Die erlassenen Kriterien zu Form und Inhalt der Tagebuch-Führung seien nicht komplett umgesetzt worden. Die Heterogenität und Unvollständigkeit der Datenerfassung erschwere die Überprüfbarkeit der gerichtsärztlichen Dienststellen.
- Die selbst geführten Tagebücher der Landgerichtsärzte seien zur Ermittlung ihrer Arbeitsbelastung ungeeignet. Im Gegensatz zur kostendeckenden Rechnungsstellung privater Sachverständiger herrsche bei den Landgerichtsärzten traditionell maßvolle Zurückhaltung. Die vorwiegend festgesetzte Honorargruppe M2 entspreche nicht der Realität. Den Landgerichtsärzten sei auch nicht bewusst gewesen, dass ihre Aufzeichnungen die Grundlage für die Berechnung der Arbeitsbelastung bilden könnten. Deshalb seien viele Tätigkeiten und insbesondere auch Vor- und Nachbereitungen von Gutachten nicht erfasst worden.
Eigene Erhebungen, die von den Regierungen auf Plausibilität geprüft und vom Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit ausgewertet worden seien, hätten eine höhere Zahl an bearbeiteten Gutachtensaufträgen als die Auswertung der eigenen Tagebücher der Landgerichtsärzte durch die Rechnungsprüfung ergeben. Das Gesundheitsministerium führt dies auf die unterschiedlichen Erhebungsmethoden zurück. Daher sei es erforderlich, in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium ein einheitliches Erfassungssystem für die Aufgaben der gerichtsärztlichen Dienststellen einzuführen. Dann könnten auch valide Daten zur Personalauslastung gewonnen werden. - Das Gesundheitsministerium habe über die zuständigen Regierungen die Nebentätigkeiten der Landgerichtsärzte prüfen lassen. Dies habe in einigen Fällen zur Nachberechnung von Nutzungsentgelten bzw. zur Klarstellung von Nebentätigkeitsgenehmigungen geführt. In anderen Fällen seien die Ermittlungen noch offen.
- Die Erstattung von Gutachten für Sozialgerichte als Teil des Hauptamtes erscheine nicht erfolgversprechend. Dies liege an der fehlenden medizinischen Sachkunde der Landgerichtsärzte.
27.5 Schlussbemerkung des ORH
Die Überlegungen des Gesundheitsministeriums zur Neuorganisation gehen nach Auffassung des ORH nicht weit genug. Die Prüfung hat Zweifel ergeben, ob die Landgerichtsärzte mit den jetzigen Aufgaben überhaupt notwendig sind. Der ORH hält an seiner Forderung fest, dass der Aufgabenteil der gerichtsärztlichen Dienste, der der klassischen Rechtsmedizin zuzurechnen ist, auf die Institute für Rechtsmedizin zu verlagern ist.
Ob die verbleibenden Aufgaben ein Konzept mit 3 zentralen Dienststellen und 13 Außenstellen rechtfertigen, hält der ORH für zweifelhaft. Für diesen Aufgabenteil sollte auch die Möglichkeit der Privatisierung geprüft werden.
[1]Vgl. §§ 87 ff. Strafprozeßordnung
[2] ORH-Bericht 2012 TNr. 19.
[3] Vgl. ORH-Bericht 2012 TNr. 19.
ÄHNLICHE BEITRÄGE
- Institute für Rechtsmedizin an den Universitäten
- Ärztlicher Dienst beim Zentrum Bayern Familie und Soziales