TNr. 44 Integrierte Leitstellen

Der ursprünglich vorgesehene Zeitplan zur Ersterrichtung der Integrierten Leitstellen in Bayern wurde um über zehn Jahre überschritten. Bis 2023 wurden für die Ersterrichtung 66,6 Mio. € und damit 84% mehr an staatlichen Mitteln benötigt als ursprünglich geplant. Für Folgeanschaffungen wurden in den Jahren 2010 bis 2023 insgesamt 112 Mio. € veranschlagt, aber nur 36 Mio. € ausgegeben.
Verzögerungen bei der anstehenden Einführung einer neuen Einsatzleitsoftware bergen Risiken für die Betriebssicherheit und die Funktionsfähigkeit des gesamten Verbundes der Integrierten Leitstellen.
Der ORH empfiehlt, dass das Innenministerium den Landtag über den Umsetzungsstand der Einführung der neuen Einsatzleitsoftware und die damit verbundenen organisatorischen, funktionellen und finanziellen Auswirkungen unterrichtet.
Der ORH hat zusammen mit dem Staatlichen Rechnungsprüfungsamt Augsburg von Mai 2023 bis April 2024 die Integrierten Leitstellen (ILS) geprüft. Schwerpunkte der Prüfung waren insbesondere der wirtschaftliche Haushaltsmitteleinsatz sowie die technische und organisatorische Entwicklung des Leitstellenverbunds.
44.1 Ausgangslage
Im Jahr 2002 wurde mit dem ILSG die Grundlage für einheitliche Notruf- und Alarmierungsstrukturen für Feuerwehr und Rettungsdienst geschaffen. In drei jährlich aufeinander folgenden Stufen[1] sollten ab 2002 flächendeckend ILS unter gemeinsamer Nutzung der Notrufnummer 112 errichtet werden.
Aufgabenträger der ILS sind die Zweckverbände für Rettungsdienst- und Feuerwehralarmierung, denen die Landkreise und kreisfreien Städte angehören. Die Zweckverbände können die ILS selbst errichten und betreiben oder Dritte damit beauftragen. Aufgabe der bayernweit 26 ILS ist es, alle Notrufe, Notfallmeldungen, sonstige Hilfeersuchen und Informationen in ihrem Leitstellenbereich entgegenzunehmen.[2] Die Disponenten in den ILS alarmieren die erforderlichen Einsatzkräfte und -mittel.
Der Freistaat unterstützt die Betreiber der ILS bei der Ersterrichtung und bei Folgeanschaffungen, indem er Investitionskosten erstattet bzw. Zuwendungen gewährt.[3] Er stellt den ILS auch die Einsatzleitsoftware kostenfrei zur verpflichtenden Nutzung zur Verfügung.
44.2 Feststellungen
44.2.1 Flächendeckende Errichtung der Integrierten Leitstellen
Das ILSG[4] sah vor, mit der flächendeckenden Errichtung der ILS ab 2002 in drei jährlich aufeinander folgenden Projektstufen zu beginnen. Die vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit,[5] die Einführung zeitlich abzustufen und zu regeln, wann in den einzelnen Leitstellenbereichen mit der Errichtung spätestens begonnen werden muss, nutzte das Innenministerium nicht. Die erste ILS ging im Februar 2008 in Ingolstadt in Betrieb, den Abschluss bildete die ILS München im Juli 2017.
44.2.2 Staatliche Erstattungsleistungen und Zuwendungen
Haushaltsmittel für die Ersterrichtung wurden erstmals im 2. Nachtragshaushalt 2002 veranschlagt.[6] Das Innenministerium ging von einem staatlichen Finanzierungbedarf für die Ersterrichtung von 36,2 Mio. € aus. Bis 2023 hat der Freistaat den Betreibern der ILS insgesamt 66,6 Mio. € bewilligt. Somit wurden für die Ersterrichtung 84% mehr Mittel benötigt als ursprünglich geplant.
Die Zuwendungs- und Erstattungsverfahren für die Ersterrichtung waren komplex und dauerten im Durchschnitt über neun Jahre: Die Betreiber der ILS reichten die Verwendungsnachweise (VN) drei Jahre nach der Inbetriebnahme ein, die Vorprüfung bei der zuständigen Regierung dauerte ein halbes Jahr; bis zum Erlass der Schlussbescheide vergingen nochmals über fünfeinhalb Jahre.
Für Folgeanschaffungen wurden zwischen 2010 und 2023 insgesamt 112,8 Mio. € im Haushalt veranschlagt. Tatsächlich ausgegeben wurden 36 Mio. €. Die Ist-Ausgaben schwankten 2010 bis 2021 zwischen 4 und 48% der jeweils veranschlagten Mittel; 2022 lag die Quote bei 75%. Ende 2023 betrug der Haushaltsrest 18 Mio. €.
44.2.3 Vertretungskonzept
Für den Fall, dass eine ILS ausfällt oder überlastet ist, sieht ein Vertretungskonzept des Innenministeriums die „Paar-Bildung“ mit einer anderen ILS als Vertretungsleitstelle vor. Die Betreiber der ILS regeln diese „Paar-Bildung“ untereinander eigenständig. Das Innenministerium machte keine Vorgaben zur Umsetzung des Vertretungskonzepts. Von den 26 ILS schufen 9 die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine Vertretung.
44.2.4 Einführung einer neuen Einsatzleitsoftware
Das bisher genutzte Einsatzleitsystem ist aus Sicht des Innenministeriums nicht mehr dauerhaft betriebssicher. Das Innenministerium erarbeitete daher mit den ILS die Anforderungen an eine neue Einsatzleitsoftware und vergab 2022 einen entsprechenden Auftrag an eine Fachfirma. Die Abnahme der neuen Einsatzleitsoftware sollte planmäßig bis Ende 2023 erfolgen. Im 2. Quartal 2025 sollte der Umstieg in allen ILS abgeschlossen werden. Dieser Zeitplan kann nicht eingehalten werden. Im November 2023 teilte die beauftragte Fachfirma mit, dass sich die Bereitstellung der neuen Einsatzleitsoftware voraussichtlich um ein Jahr verzögern werde.
Mit der neuen Einsatzleitsoftware kann die bestehende Hardware der ILS nicht oder nur sehr bedingt weiterverwendet werden, unabhängig davon, ob altersbedingt turnusmäßig ein Tausch ansteht. Sechs von sieben vor Ort geprüften Leitstellen haben den turnusmäßig anstehenden Hardwaretausch auch im Hinblick auf die neue Einsatzleitsoftware nicht vorgenommen.
Die Notrufe werden in der ILS von Disponenten entgegengenommen. Diese müssen an der Staatlichen Feuerwehrschule Geretsried geschult werden.[7] In der dortigen Schulungsumgebung wurde die Hardwareausstattung des aktuell im Einsatz befindlichen Einsatzleitsystems bereits vollständig zurückgebaut. Die Hardwareausstattung für das neue Einsatzleitsystem wurde noch nicht vollständig errichtet und die neue Einsatzleitsoftware noch nicht zur Installation bereitgestellt. Somit können seit Dezember 2022 keine Disponenten geschult werden.
44.3 Würdigung und Empfehlungen
44.3.1 Flächendeckende Errichtung der Integrierten Leitstellen
Planung und tatsächlicher Verlauf der Errichtung der ILS sind sehr stark auseinandergelaufen. Aus Sicht des ORH sind die Verzögerungen insbesondere auf mangelnde Vorgaben und eine fehlende Steuerung durch das Innenministerium zurückzuführen. Ein abgestuftes Konzept mit verbindlichen rechtlichen und zeitlichen Vorgaben hätte die flächendeckende Errichtung der ILS beschleunigt.
44.3.2 Staatliche Erstattungsleistungen und Zuwendungen
Dem ORH ist bewusst, dass Kostenschätzungen bei einem Projekt in dieser Größenordnung mit Unwägbarkeiten verbunden sind. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die zeitlichen Verzögerungen bei der Einführung maßgeblich zu den Kostensteigerungen beigetragen haben.
Eine Verfahrensdauer von über neun Jahren für die Abwicklung von Zuwendungs- und Erstattungsverfahren ist aus Sicht des ORH nicht hinnehmbar. Der lange Zeitbedarf für die Zusammenstellung der Unterlagen und die Einreichung des VN belegt die Komplexität der Fördersystematik. An die Betreiber der ILS werden aus Sicht des ORH zu hohe bürokratische Anforderungen gestellt.
Dass die Mittel für Folgeinvestitionen regelmäßig in erheblichem Umfang überveranschlagt wurden und das Verhältnis der Ist-Ausgaben zum Haushaltsansatz stark schwankte, deutet auf Defizite bei der Planung hin.
44.3.3 Vertretungskonzept
Ein einheitlicher und funktionierender Leitstellenverbund setzt voraus, dass die technischen und organisatorischen Vorkehrungen für den Vertretungsfall flächendeckend getroffen sind. Dass dies auch 15 Jahre nach Errichtung der ersten ILS immer noch nicht der Fall ist, hält der ORH für nicht hinnehmbar. Aus Sicht des ORH bedarf es einer strafferen Steuerung durch das Innenministerium mit klaren Vorgaben.
44.3.4 Einführung einer neuen Einsatzleitsoftware
Die Verzögerungen bei der Einführung der neuen Einsatzleitsoftware bergen Risiken für die Betriebssicherheit und die Funktionsfähigkeit des Leitstellenverbundes insgesamt. Einige ILS nahmen den turnusmäßig anstehenden Hardwaretausch nicht vor, weil mit der neuen Einsatzleitsoftware ohnehin neue Hardware angeschafft werden muss.
Leitstellen, die ihre Hardware noch vor der Umstellung auf die neue Einsatzleitsoftware turnusmäßig tauschen müssen, müssen danach erneut Hardware beschaffen. Je länger sich die Einführung der Einsatzleitsoftware verzögert, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass beschaffte und staatlich finanzierte Hardware zeitlich nicht im vollen vorgesehenen Umfang genutzt werden kann.
Aus Sicht des ORH sollte das Innenministerium Alternativen prüfen, wie die Ausbildung der Disponenten trotz aktuell fehlender Schulungsumgebung sichergestellt und ein Stau in der Ausbildung verhindert werden kann. Die Gefahr von Personalengpässen sollte auf jeden Fall vermieden werden.
44.4 Stellungnahme der Verwaltung
Die flächendeckende Ersterrichtung der ILS sei mit der Inbetriebnahme der ILS München 2017 abgeschlossen worden. Das Innenministerium stimme der Einschätzung des ORH zu, dass die Gesamtdauer der flächendeckenden Ersterrichtung der ILS sehr deutlich von der ursprünglichen Planung abgewichen sei. Für die Ersterrichtung seien letztmalig 2024 Mittel abgeflossen. Daher müssten keine Ausgabereste mehr übertragen werden, die Restmittel aus dem Haushaltsjahr 2023 seien dem Finanzministerium bereits zum Einzug angeboten worden. Die Zuwendungs- und Kostenerstattungsverfahren für die Ersterrichtung seien damit Ende 2024 vollständig abgeschlossen.
In der Nachbetrachtung sei festzustellen, dass das ursprünglich gewählte Zuwendungs- und Kostenerstattungsverfahren für das komplexe Vorhaben der Ersterrichtung nicht geeignet gewesen sei. Die erforderliche VN-Prüfung habe aufgrund der Vielzahl an technischen Vorgaben und Auflagen nur mit sehr großem zeitlichem Aufwand durchgeführt werden können. Die komplexen fachtechnischen Prüfungen seien im Verwaltungsverfahren beim Erlass des Schlussbescheids durch die zuständige Regierung nur sehr aufwendig umsetzbar gewesen.
Nach einer Umstrukturierung und Bündelung der Zuständigkeiten im Innenministerium seien alle Kostenerstattungsverfahren mit aktuellem Verfahrensstand erfasst worden. Die Erkenntnisse aus dem Bereich der Ersterrichtung seien zudem zum Anlass genommen worden, für nachfolgende Verfahren im Bereich der Folgeinvestitionen eine neue Kostenerstattungssystematik zu konzipieren, die im Vorfeld auch mit dem ORH und dem Finanzministerium abgestimmt worden sei. Die getroffenen Maßnahmen zur Vereinfachung komplexer Kostenerstattungsanträge hätten bereits Wirkung gezeigt und würden regelmäßig auf Tauglichkeit überprüft und bei Bedarf nachjustiert. Ferner arbeite das Innenministerium daran, die Prozesse im Vertretungsbetrieb der Leitstellen zu verbessern. Hinsichtlich der fehlenden Schulungsumgebung für die Ausbildung der Disponenten werde außerdem ein anderer Standort mit einer Simulationsumgebung für die Ausbildung ertüchtigt.
44.5 Schlussbemerkung
Der ORH erkennt an, dass die langjährigen erheblichen Rückstände und Lücken bei der finanziellen Unterstützung der Errichtung der ILS durch erhebliche Anstrengungen des Innenministeriums zwischenzeitlich weitestgehend aufgearbeitet wurden und die Empfehlung des ORH, Maßnahmen zur Sicherstellung der Disponentenausbildung zu treffen, aufgegriffen wurde. Die nun anstehende Einführung der neuen Einsatzleitsoftware ist eine technisch und organisatorisch komplexe Herausforderung. Welche Risiken sich durch die Verzögerung für den Betrieb der ILS und die Funktionsfähigkeit des Leitstellenverbundes insgesamt ergeben, ist derzeit noch nicht abschätzbar.
Der ORH empfiehlt daher, dass das Innenministerium den Landtag über den Umsetzungsstand der Einführung der neuen Einsatzleitsoftware und die damit verbundenen organisatorischen, funktionellen und finanziellen Auswirkungen unterrichtet.
[1] Art. 4 Abs. 5 ILSG.
[2] Art. 2 Abs. 1 ILSG.
[3] Art. 7 Abs. 1 und 2 ILSG.
[5] Art. 10 Abs. 1 Nr. 5 ILSG.
[6] Kap. 03 24 TG 88.
[7] §§ 8 und 16 AVBayFwG